Der Augenjäger / Psychothriller
nur: ›Gott, lass sie tot sein. Bitte lieber Gott, mach, dass Iris tot ist.‹«
»Aber das war sie nicht?«, fragte Alina, wütend darüber, dass sie ein Krampf in ihrer Hand zu einer Pause zwang.
»Ich weiß es nicht. Suker gab mir ein Betäubungsmittel, und als ich aufwachte, war ich nicht mehr in dem Käfig, sondern in einer richtigen Zelle gefangen. Er kam und sagte mir, ich müsse jetzt keine Angst mehr haben. Ich wäre doch seine Ausnahme. Daher habe er mich schon die ganze Zeit über nicht wie die anderen behandelt.«
Behandelt,
dachte Alina. Wieder ein Synonym für Schmerzen, Qualen und unvorstellbare Ängste. Sie spürte die Wut in ihr weiter wachsen, und das war gut, denn diese Wut mobilisierte ungeahnte Kräfte.
Verdammt, Zorbach, du dummer Hund, das hier ist alles deine Schuld. Wieso mussten wir nur aufeinandertreffen?
Alina nahm sich vor, ihm mit Anlauf gegen das Schienbein zu treten, wenn sie jemals wieder die Gelegenheit dazu erhalten sollte.
Ich werde dich treten, dir ins Gesicht schlagen, deine Haut zerkratzen und dann
…, sie bemerkte, wie sich ein Druck in ihren Augen aufbaute, während sie weiter den Karabinerhaken bearbeitete,
… und dann werde ich mir überlegen, ob ich dir die Zunge abbeiße, während ich dich küsse, du alter Hurensohn.
Erschrocken stellte sie fest, dass sie gerade an den
alten
Zorbach gedacht hatte. An den Mann, der nicht hilflos im Rollstuhl saß, dessen Frau nicht ermordet worden war und dessen Sohn noch lebte. An den einzigen Mann, der ihr so nahegekommen war, dass sie sich gewünscht hätte, irgendwann einmal sein Gesicht sehen zu können. Wobei das ein Gedanke war, den sie nicht zulassen durfte. Es wäre das Eingeständnis gewesen, ein Teil von ihr könnte sich wünschen, Suker würde tatsächlich die Operation an ihr vornehmen.
»Was geschah dann?«, versuchte Alina sich abzulenken, indem sie das Gespräch wieder anschob.
»Suker streichelte mir über den Kopf, sagte wieder, ich sei etwas Besonderes, und deshalb würde er nicht zulassen, dass man mich tötet. Und dass Iris nicht länger seine Assistentin sei. Er habe sich von ihr getrennt und mich an einen Ort geschafft, wo ich vor ihr sicher sei und sie mich niemals finden könne.«
»Und seitdem hast du Iris nicht mehr gesehen?«
»Nein. Es gab sogar eine Zeit, da war auch Suker verschwunden. Er sagte, er wäre nur kurz mal weg, und ich dachte, er sei verreist übers Wochenende oder so. Aber aus den Tagen wurden Wochen, und bis gestern dachte ich noch, ich müsste in meinem Loch hier verrecken. Wäre ich auch, hätte er mir nicht genügend Wasser und Zwieback in meiner Zelle zurückgelassen.«
Das musste die Zeit gewesen sein, in der er in Untersuchungshaft gewesen war, dachte Alina. Das war gleichzeitig eine gute und eine schlechte Nachricht: Einerseits arbeitete Suker wieder allein, es gab also nur einen Gegner. Andererseits würde es der Polizei nichts bringen, nach dem alten Versteck zu suchen. Auch Tamaras Zeugenaussage war in diesem Punkt wertlos, weil Suker seine Folterkammer an einen anderen Ort verlegt hatte.
Alina wollte Nicola gerade fragen, ob sie Tamara während ihrer Haft begegnet war, als es klick machte und sie ihre Hand frei bewegen konnte. Im ersten Moment war ihre Euphorie so groß, dass sie jubelnd aufschrie.
»Was hast du?«, fragte Nicola ängstlich.
»Meine Hände«, lachte Alina. »Ich kann sie beide wieder bewegen.«
Sie erklärte ihr, wie ihr das gelungen war, während Nicola ihr von Iris erzählt hatte.
»Und was soll das bringen? Das wird ihn nur wütend machen, wenn er zurückkommt. Du kannst ja immer noch nicht weglaufen.«
»Aber ich kann mich aufsetzen.«
Alina stützte sich auf die Ellbogen und stöhnte. Ihr Körper hatte so lange in einer verdrehten Haltung verharren müssen, dass es ihr schwerfiel, eine normale Position einzunehmen. Auf jeden Fall durfte sie sich nicht hastig aufrichten, um nicht Gefahr zu laufen, ohnmächtig zu werden.
»Schön, du sitzt. Du hast wieder zwei Hände. Willst du jetzt mit der Liege unterm Arsch hier rausrennen?«
»Keine Ahnung. Sag du es mir.«
»Hä?«
»Sag du mir, was ich tun soll. Sieh dich um! Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte? Kann ich mich irgendwo entlanghangeln?«
»Wo willst du denn hin?«
»Du hast doch gesagt, neben der Tür wäre ein Knopf für den Feueralarm. Wie komme ich da hin?«
»Keine Ahnung. Ich kann dich von mir aus nicht mehr sehen.«
Richtig, ich bin zu weit hinter dir.
»Aber ich höre dich.
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