Der Außenseiter
Manuskript auf, das er gerade las. Auf Anhieb fiel ihm niemand ein, der so un-verfroren gewesen wäre, an einem Samstagabend um halb zehn unangemeldet bei ihm zu klingeln.
Da seine beiden Töchter friedlich oben in ihrem Zimmer schliefen, dachte er nicht automatisch an die Polizei, sondern wartete ab, ob der späte Besucher noch einmal läuten würde. Als das geschah, stand er widerstrebend auf.
Sämtliche Fenster des zugigen kleinen Hauses, in dem er lebte, gingen nach vorn hinaus, so dass abends bei Licht von der Straße aus sein Schatten auf den Vorhängen deutlich sichtbar war. Wer immer also draußen vor der Tür stand, wusste, dass er zu Hause war, und er war ein zu höflicher Mensch, um sich einfach tot zu stellen. Aber er war nicht erfreut. Er hatte eine abgewetzte Cordhose an und ein mit Suppe bekleckertes altes Hemd und hatte so eine Ahnung, dass er gleich Jenny und Greg vor sich sehen würde, beide tipptopp in Schale geworfen für irgendein Fest und insgeheim das traurige Altmännerbild belächelnd, das er bot.
Er machte auf. Er erkannte die Frau sofort, er 480
hatte sie im Crown and Feathers gesehen und auf der Fotografie, die George ihm gezeigt hatte: Priscilla Fletcher. Gleichzeitig war ihm klar, dass er zwei Möglichkeiten hatte: Er konnte sie wissen lassen, dass sie ihm bekannt war, oder er konnte den Ahnungslosen spielen. Während er seine Verblüffung hinter einem höflichen Lächeln verbarg, erwog er die Vorteile jeder Alternative. »Ja, bitte?«
»Wissen Sie, wer ich bin?«, erkundigte sie sich ohne Umschweife.
Andrew wich aus. »Ich glaube, ja. Sie sind Jonathan Hughes’ geheimnisvolle Fremde. Ich habe Sie im Februar bei Roy Trent im Pub gesehen.«
Aus der Nähe hatten ihre Züge keinerlei Ähnlichkeit mit dem rundwangigen Kindergesicht Cill Trevelyans. Das ihre war schmal und eingefallen, mit Fältchen rund um die Augen, und Andrew vermerkte verwundert, wie künstlich die Farbe ihres Haars wirkte. Sie erinnerte ihn mehr an eine anorektische Wallis Simpson als an eine sprühende Dreizehnjährige auf dem Sprung ins Leben.
»Kennen Sie meinen Namen?«
Andrew entschied sich für Ehrlichkeit. »Das kommt darauf an, welcher Ihnen gerade genehm ist«, erwiderte er trocken. »Priscilla Fletcher – Cill Trent – möglicherweise auch Daisy Burton oder Louise Burton? Was ist Ihnen am liebsten?«
»Louise«, sagte sie. »An die anderen habe ich mich nie richtig gewöhnt.« Mit einer ruckartigen 481
Kopfbewegung wies sie zu dem Zimmer hinter ihm. »Wollen Sie mich nicht reinlassen?«
Er musterte einen Moment lang ihr Gesicht, dann zog er die Tür ganz auf. »Solange Sie nicht vorha-ben, mir die Brieftasche zu stehlen. Bei mir gibt’s noch weniger zu holen als bei Jonathan, es würde sich also überhaupt nicht lohnen.«
»Ich habe sie nicht gestohlen«, widersprach sie und ging an ihm vorbei. »Ich habe sie mir kurz ausgeliehen, um zu sehen, was ich über ihn rausbekommen kann.« Sie sah sich mit kritischem Blick in dem kleinen offenen Raum um. Am einen Ende befand sich die Küche, in der Mitte führte eine Treppe nach oben und gleich vorn stand eine Sitzgruppe mit Couchtisch. »Na, Luxus ist das hier nicht gerade. Sie gehören anscheinend nicht zu den Spitzenverdienern.«
Andrew schloss die Tür. »Woher wissen Sie, wo ich wohne?«
Sie nahm einige Geschäftskarten aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. »Die waren in der Brieftasche von Ihrem Freund. Auf Ihrer hat hinten Ihre Privatadresse draufgestanden.«
Andrew sah die Karten durch, die meisten mit New Yorker Adressen, bis er ganz unten auf seine eigene stieß. Er konnte sich sogar noch an die heftige Anwandlung von Einsamkeitsgefühlen erinnern, die ihn veranlasst hatte, seine Adresse in Peckham auf die Rückseite zu schreiben. Er hatte Jonathan 482
die Karte über einen Restauranttisch hinweg zu-geschoben und ihn eingeladen, bei Gelegenheit einmal abends vorbeizukommen, wenn er nichts Besseres vorhabe. Er war nie gekommen. »Haben Sie sonst noch etwas herausgenommen?«
»Nein. Eigentlich wollte ich nur Hughes’ Adresse, aber er hatte keine Visitenkarten von sich mit.«
Sie schaute zur Treppe, als überlegte sie, ob sich noch jemand im Haus befand. »Er ist ein ziemlich komischer Vogel, stimmt’s? Als ich mit ihm geredet habe, hat er die ganze Zeit wie wild mit den Augen gerollt – ich dachte schon, er wär ein Junkie.«
»Er war krank.«
Es interessierte sie nicht genug, um nachzufragen.
»Haben Sie was dagegen, wenn ich
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