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Der Außenseiter

Der Außenseiter

Titel: Der Außenseiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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dass einige dieser Erinnerungen ihn überkamen, noch während er sprach. Aber hieß das, dass sie echt waren? Sie hatte keine Ahnung, doch das Bild, das er von seiner Kindheit zeichnete, war bestürzend.
    »Man versucht, seine Umwelt zu verstehen, wenn man klein ist«, sagte er an einer Stelle, »und ich dachte eben, dass mein Vater nur Frauen mag. Er nannte meine Mutter und Louise seine ›Schönen‹, aber die Aufmerksamkeit hat immer nur Lou bekommen – nie meine Mutter. Sie hat mich immer ihre Haare flechten lassen, wenn er dabei war, aber kaum war er aus dem Zimmer, hat sie mich wegge-stoßen.« Er lächelte mühsam. »Sie sagte, wenn ich das zu oft machte, würde ich später mal schwul werden. Ich hatte keine Ahnung, wovon sie redete.«
    Bei anderer Gelegenheit: »Dann hat Lou angefangen, auf Cathy McGowan zu machen. Mein Vater
    hat ihr Geld zugesteckt, und sie kam mit einem Minirock und Ladungen von Schminkzeug nach Hause. Sie stolzierte in ihrer neuen Aufmachung im Wohnzimmer vor ihm herum, und meine Mutter 559

    ist total ausgeflippt. Lou hatte sich die Augen mit schwarzem Stift angemalt und die Lippen blassrosa geschminkt, und meine Mutter schrie, sie sähe aus wie ein Flittchen, und haute ihr eine runter. Mein Vater lachte nur …
    Cill hat er auch Geld gegeben, damit sie sich genauso auftakeln konnte wie Lou. Er nannte sie seine Prinzessinnen. Da hat Lou dann plötzlich angefangen, von oben herab zu tun, und gesagt, Cill wäre nicht mehr ihre Freundin. Sie war unheimlich eifersüchtig. Ich meine, sie war zaundürr. Ein Blinder hätte gesehen, dass Cill besser ausschaute als sie …
    Ich weiß nicht, ob mein Vater sich an Cill vergriffen hat. An solche Sachen denkt man nicht als kleiner Junge. Aber er hatte einen Narren an ihr gefressen. Sie musste sich immer auf seinen Schoß setzen, wenn meine Mutter nicht in der Nähe war, und er hat mit ihren Haaren rumgemacht.«
    »Warum hat Ihre Mutter ihn denn allein im Haus gelassen, wenn sie ihm nicht traute?«, fragte Sasha.
    Vielleicht zum hundertsten Mal an diesem Morgen vergrub Billy das Gesicht in den Händen. »Ich weiß ja gar nicht, ob sie ihm wirklich nicht getraut hat. Ich weiß nicht, ob ich mir das alles nicht nur einbilde.«
    Rachel drückte ihm die Hand. »Eileen hat abends auch noch gearbeitet – von nachmittags vier bis 560

    abends um acht. Sie war nur zu Hause, wenn die Kinder in der Schule waren und ihr Mann schlief.«
    »Sie war nicht gern Mutter«, warf Billy ein. »Wir wurden von meinem Vater versorgt.«
    »Vielleicht brauchten sie ja auch das Geld«, meinte Sasha.
    »Warum hat sie dann nicht in einem Supermarkt gearbeitet? So wie Rachel.«
    »Vielleicht waren die Putzstellen die einzige Arbeit, die es gab«, sagte Sasha. »Hatte Louise noch andere Freundinnen, die sie zu Hause besuchten?«
    »Ein paar, ja.«
    »Hat Ihr Vater die auch auf den Schoß genommen?«
    »Manchmal, aber Cill war die Einzige, die ihn mit ihren Haaren rumspielen ließ. Ich glaube, sie hat’s getan, um Lou eifersüchtig zu machen.« Er schüttelte den Kopf. »Er kann ihr nichts Schlimmes getan haben, denn sie war auf jeden Fall noch unberührt, als die Schweine sie vergewaltigten, da bin ich mir sicher. Ihre Beine waren ja über und über voll Blut.«
    »Vielleicht hat er sie erst mal ›abgerichtet‹. Das machen Kinderschänder oft so mit ihren Opfern.«
    Billy starrte sie angeekelt an. »Über so was wurde damals nicht gesprochen. Es war bekannt, dass es Kinder wie Cill gab, die jedes Mal, wenn sie was angestellt hatten, von ihrem Vater verdroschen 561

    wurden, aber sexueller Missbrauch …« Er schüttelte den Kopf. »Es gab natürlich Ian Brady und Myra Hindley, aber das waren Psychopathen, und sie hatten es auf die Kinder von anderen Leuten abgesehen. Es ist so, als hätte das mit dem sexuellen Missbrauch in Familien erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren angefangen.«
    »Das gibt es seit Jahrhunderten«, sagte Sasha, die sich mit dem Thema eingehend befasst hatte.
    »Verändert hat sich lediglich die Einstellung der Gesellschaft dazu. Wir wissen heute, dass ein Kind, das zu einer Beziehung gezwungen wird, in der die Machtverhältnisse ungleich verteilt sind, unheilba-ren Schaden erleidet. Solche Kinder neigen dazu, dieses Ungleichgewicht auch in späteren Beziehungen zu suchen, und genau das tut offenbar Louise.«
    Jonathan beschattete die Augen mit der Hand.
    »Louise sagte zu Andrew, man müsse bedenken, dass damals ja niemand wissen konnte, dass Grace

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