Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
Vom Netzwerk:
werden – nötigenfalls mit Waffengewalt. Nach etwa einem Monat ging dann der Gärtner hinterher und brachte zurück, was von dem verhungerten, dornenzerfetzten, von Vögeln angepickten und wurmzerfressenen Leichnam übriggeblieben war.
    Am Tag nach meiner Rückkehr wartete ich auf den Unterrichtsbeginn, als Prinz Weide zu mir trat. Nachdem er mich wieder im Palast willkommen geheißen hatte, sagte er ganz beiläufig: »Übrigens, mein Vater würde sich freuen, dich im Thronsaal zu begrüßen, wenn du Zeit hast, Kopf Neiger.«
    Wenn ich Zeit hatte! Mit welch ausgesuchter Höflichkeit auch noch der ranghöchste Acólhua den niedrigsten Fremden, welcher sich seiner Gastfreundschaft erfreute, vor sein Angesicht zitierte. Selbstverständlich verließ ich augenblicklich das Klassenzimmer und wäre durch die Galerie des Palastes fast gerannt, so daß ich ganz außer Atem war, als ich mich auf der Schwelle zum riesigen Thronsaal auf ein Knie niederließ und die Geste des Erdeküssens vollführte und sagte: »In Eurer erhabenen Gegenwart, Verehrter Sprecher.«
    »Ximopanólti, Kopf Neiger.« Als ich demütig in meiner knieenden Stellung verharrte, sagte er: »Du kannst aufstehen, Maulwurf.« Als ich mich zwar erhob, doch stehenblieb, wo ich war, sagte er: »Tritt nur näher, Dunkle Wolke.« Und als ich auch das tat – langsam und voller Ehrerbietung – lächelte er und sagte: »Du hast so viele Namen wie ein Vogel, der über alle Völker Der Einen Welt dahinfliegt und von jedem Stamm anders genannt wird.« Mit einem Fliegenwedel wies er auf einen von mehreren Icpáltin-Stühlen, die im Halbrund vor dem Thron aufgestellt waren, und sagte: »Nimm Platz.«
    Nezahualpílis eigener Stuhl war auch nicht größer oder eindrucksvoller als der kurzbeinige, auf dem ich saß, nur stand er auf einem Podest, so daß ich zu ihm aufschauen mußte. Er hatte die Beine nicht förmlich gekreuzt oder die Knie sittsam nebeneinandergestellt, sondern lässig weit von sich gestreckt und die Fußgelenke übereinandergeschlagen. Wiewohl der Thronsaal mit federgewirkten Wandteppichen und Wandbildern ausgestattet war, wies er keine andere Einrichtung auf als eben jenen erhöhten Thron und die niedrigen, für die Besucher bestimmten Stühle – sowie, unmittelbar vor dem Uey-Tlatoáni, einen niedrigen Tisch mit schwarzer Onyxplatte, auf welcher ihm zugewandt ein schimmernder weißer Totenschädel stand.
    »Den hat mein Vater, Hungernder Kojote, dorthin stellen lassen«, erklärte Nezahualpíli, als er bemerkte, daß meine Augen darauf ruhten. »Warum, weiß ich nicht. Vielleicht war es irgendein besiegter Feind, an dessen Anblick er sich weidete. Oder der Kopf einer Geliebten, welche er nicht aufhören konnte zu betrauern. Vielleicht aber hat er ihn dort auch aus dem gleichen Grund stehen gehabt wie ich.«
    Woraufhin ich nur sagen konnte: »Und das wäre, Hoher Gebieter?«
    »Weil dies das lauterste und aufrichtigste Gesicht ist, das ein Mensch aufsetzen kann. Ohne Schminke und Verkleidung, ohne Arglist und Verstellung, ohne verschlagenes Augenzwinkern noch einnehmendes Lächeln. Nichts weiter als ein festgefrorenes ironisches Grinsen, Ausdruck des Spotts über alle drängenden menschlichen Bedürfnisse. Wenn ein Besucher mich bittet, daß ich hier und jetzt irgendein Machtwort spreche, versuche ich, Zeit zu gewinnen, verstelle ich mich, rauche ich ein oder zwei Poquietl und versenke mich in den Anblick des Totenschädels. Der erinnert mich daran, daß jedes der Worte, die ich spreche, möglicherweise länger lebendig und wirksam bleibt als mein eigenes Fleisch, und lange, lange Zeit hindurch als königliche Verordnung das Leben der Menschen bestimmt – und wer weiß, auf welche Weise sie sich auf diejenigen auswirken, die dann leben? Ayyo, dieser Schädel hat mich oft davor bewahrt, eine ungeduldige und der Regung des Augenblicks entspringende Entscheidung zu fällen.« Nezahualpíli wandte den Blick vom Schädel ab, blickte mich an und lachte: »Wer weiß, als er noch am Leben war, war es vielleicht der Kopf eines stammelnden Schwachsinnigen; jetzt jedoch, wo er tot ist und stumm, dient er mir wahrhaftig als Ratgeber.«
    Ich sagte: »Ich glaube, kein Ratgeber wäre von irgend welchem Nutzen, Herr, es sei denn, einem Mann, der weise genug ist, auch auf einen Rat zu hören.«
    »Das nehme ich als Kompliment, Kopf Neiger. Vielen Dank. Nun denn, war es weise von mir, dich aus Xaltócan hierherzuholen?«
    »Das kann ich nicht sagen, Gebieter. Ich weiß

Weitere Kostenlose Bücher