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Der Azteke

Der Azteke

Titel: Der Azteke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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entgegengestreckt«, fuhr mein Vater fort zu murmeln. »Sie zurückzuweisen … nachdem mein Gebieter beleidigt worden ist … das wäre eine womöglich noch größere Beleidigung …«
    »Wirst du annehmen?«
    »Nun … ja. Das muß ich wohl. Ich werde das Angebot annehmen. Ich könnte es ja gar nicht ausschlagen, oder?«
    »Na also!« sagte meine Mutter höchlichst erfreut. Sie wischte sich die Hände aneinander ab, als habe sie eine besonders schmutzige Arbeit hinter sich gebracht. »Dank der Dirne, deren Namen ich nie wieder aussprechen möchte, können wir vielleicht nie mehr adlig werden, aber immerhin sind wir unter den Macehuáltin eine Stufe höher gekommen. Und da der Herr Rot Reiher willens ist, unsere Schande zu übersehen, wird auch jedermann sonst das tun. Wir können immer noch den Kopf hochtragen und brauchen ihn nicht in Schande hängen zu lassen. Aber jetzt«, schloß sie munter, »muß ich wieder hinaus. Die Frauen von der Abordnung warten darauf, daß ich zusammen mit ihnen die Tempelpyramide fege.«
    »Ich begleite dich ein Stück, meine Liebe«, sagte mein Vater. »Ich glaube, ich sehe mir den westlichen Steinbruch etwas genauer an, solange die Arbeiter frei haben. Ich habe schon lange den Verdacht, daß der Meistersteinhauer dort eine vielversprechende Schicht übersehen hat …«
    Während sie beide zur Tür gingen, drehte meine Mutter sich noch einmal um und sagte zu mir: »Ach, Mixtli, würdest du die Sachen deiner Schwester zusammenpacken und irgendwo zurechtlegen? Wer weiß, vielleicht schickt sie eines Tages jemand her, der sie für sie abholen soll.«
    Ich wußte, daß sie das weder tun konnte noch tun würde, tat jedoch trotzdem, wie mir aufgetragen worden war, und verpackte alles in Körbe, was ich als ihr persönliches Eigentum erkannte. Nur eines packte ich nicht mit ein, sondern verbarg es: ihr kleines Figürchen von Xochiquétzal, der Göttin der Liebe und der Blumen, das sie neben ihrem Lager stehen gehabt hatte; jener Göttin, an die junge Mädchen sich im Gebet wenden, um eine glückliche Ehe zu erflehen.
    Nachdem ich Tzitzis Habseligkeiten verstaut hatte, packte ich meine eigenen, die ich aus Texcóco mitgebracht hatte. Das letzte, was ich noch in meinen Weidenkorb steckte, war die kleine Figur der Xochiquétzal. Dann schulterte ich den Korb und verließ mein Elternhaus, um nie wieder dorthin zurückzukehren. Doch eines wußte ich: Eines Tages würde ich mich an Pactli rächen, der meine Schwester zu Tode gebracht hatte. Als ich zum Seeufer hinunterging, begleitete mich eine Zeitlang ein Schmetterling und umgaukelte mich ein paarmal.
    Ich hatte das Glück, einen Fischer zu finden, der wider Sitte und Herkommen entschlossen war, auch während des Ochpanitztli-Festes weiter in seiner Arbeit fortzufahren und gerade im Begriff stand, hinauszurudern und draußen auf dem See darauf zu warten, daß die Weißfische an die Oberfläche stiegen. Er erklärte sich einverstanden, mich gegen eine Bezahlung, die weit höher lag als alles, was er sich verdient haben würde, wenn er die ganze Nacht gefischt hätte, nach Texcóco zu rudern.
    Unterwegs fragte ich ihn: »Hast du von irgendeinem Fischer oder Vogelsteller gehört, daß ihm vor kurzem ein Kanu abhandengekommen ist? Oder daß irgend jemandes Acáli abgetrieben oder gestohlen worden wäre?«
    »Nein«, sagte er.
    Ich blickte zurück zur Insel, die an diesem Sommernachmittag sonnenüberflutet und friedlich dalag. Sie dehnte sich auf dem Wasser, wie sie es immer getan hatte und immer tun würde, nur, daß sie nie wieder »Feines Glöckchengeläut« vernehmen – und auch keinen Gedanken weiter an einen solchen Verlust verschwenden würde. Der Herr Rot Reiher, der Herr Freude, meine Mutter und mein Vater, meine Freunde Chimàli und Tlatli und alle anderen Bewohner von Xaltócan waren bereits übereingekommen, sie zu vergessen. Ich jedoch nicht.
    »Aber wieso denn, Kopf Neiger!« rief die Dame von Tolan aus, der erste Mensch, dem ich auf dem Weg zu meinen Gemächern im Palast begegnete. »Du bist aber früh aus deinen Ferien wieder daheim.«
    »Ja, Gebieterin. Xaltócan ist für mich keine Heimat mehr. Und hier habe ich viel zu tun.«
    »Willst du damit sagen, du hättest Heimweh gehabt nach Texcóco?« sagte sie und lächelte. »Dann müssen wir dich dazu gebracht haben, uns alle gern zu haben. Diese Vorstellung entzückt mich, Kopf Neiger.«
    »Bitte, Gebieterin«, sagte ich und hatte dabei einen Kloß im Hals, »ruft mich nicht mehr mit

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