Der Azteke
sehr eindrucksvoll aufgrund ihrer reichen Stickerei, gleichwohl jedoch einfache Tücher, die entweder schlaff vom Mast herabhängen oder lustlos daran flattern und knattern wie Wäsche, die eine Bäuerin zum Trocknen auf die Kaktusdornen gelegt hat. Im Gegensatz dazu waren die unglaublich langen Banner Tenochtítlans aus Federn gewirkt – aus Federn, die von ihren Kielen befreit waren, wobei nur die allerleichtesten Daunen überhaupt verwendet wurden. Auch waren sie weder bemalt noch gefärbt, vielmehr waren die Wimpel kunstvoll in den natürlichen Farben der Federn verarbeitet: den Untergrund bildeten weiße Reiherfedern, und die Wappenzeichen bestanden aus den unterschiedlich rotgetönten Federn von Papageien, Kardinalsvögeln und Langschwanzsittichen, den mannigfaltig getönten Blaufedern von Hähern und Reihern, den Gelbtönen von Tukanen und Tanagrameisen. Ayyo, ich erzähle euch die reine Wahrheit, ja, ich küsse die Erde – was ich dort erblickte, waren Farben und Leuchtkraft, wie sie nur in der lebendigen Natur vorkommen, nicht aber in den Farbtöpfen der Menschen.
Das Wunderbarste von allem aber war, daß die Banner weder schlaff herabhingen noch flatterten, sondern vielmehr schwebten. Kein Lüftchen regte sich an diesem Morgen. Einzig die Bewegungen der Menschen auf den Straßen und der Acàltin auf den Kanälen ließen leichte Luftströmungen entstehen, welche genügten, die sehr langen, aber nahezu gewichtslosen Wimpel in der Schwebe zu halten. Großen Vögeln gleich, die keine Lust hatten fortzufliegen, sondern es zufrieden waren, träumerisch in der Luft zu schweben, hingen die Banner vollständig ausgebreitet in der Luft. Sanft wogten die Tausende von Federbannern, lautlos und wie von Zauberhand gehalten, über den Türmen und Zinnen dieser magischen Inselstadt.
Wenn ich mich gefährlich weit zur Fensteröffnung hinauslehnte, konnte ich weit im Südosten die beiden Vulkanspitzen von Popocatépetl und Ixtacciuatl sehen, den weihrauchspeienden Berg und Die Weiße Frau. Obwohl die Trockenzeit gerade erst angefangen hatte und die Tage warm waren, waren beide Berge mit einer weißen Haube bedeckt – dem ersten Schnee, den ich sah –, und der schwelende Weihrauch, der tief aus dem Inneren des Popocatépetl aufstieg, strich als duftige blaue Rauchfahne über den Berg dahin, so träge wie die Federbanner über Tenochtítlan. Eilends sprang ich vom Fenster zurück, um meinen Vater zu wecken. Er muß noch müde gewesen sein und hatte eigentlich weiterschlafen wollen, stand jedoch ohne Murren auf und lächelte verständnisvoll über meinen Eifer, so bald als möglich hinauszugehen in die Stadt.
Entladung und Weitertransport der Fracht gehörten zu den Aufgaben des Frachtmeisters, und so hatten mein Vater und ich den Tag für uns. Er mußte eine Besorgung machen – irgend etwas kaufen, was meine Mutter ihm aufgetragen hatte mitzubringen –, und deshalb machten wir uns zuerst in nördlicher Richtung nach Tlaltelólco auf.
Wie ihr wißt, ehrwürdige Patres, ist jener Teil der Insel – den ihr heute Santiago nennt – vom Südteil der Stadt nur durch einen breiten Kanal getrennt, den etliche Brücken überspannen. Aber Tlaltelólco war über viele Jahre hinweg eine selbständige Stadt unter einem eigenen Herrscher und wetteiferte heftig mit Tenochtítlan darum, Hauptstadt der Mexíca zu sein. Tlaltelolcos Überlegenheitswahn war lange Zeit hindurch gutmütig von unseren Verehrten Sprechern geduldet worden. Als jedoch der inzwischen verstorbene Herrscher Moquihuix die Stirn hatte, eine Tempelpyramide zu bauen, die höher war als jede in den vier Ecken von Tenochtítlan, war der UeyTlatoáni Axayácatl zurecht verärgert und befahl seinen Zauberern, den nunmehr unerträglichen Nachbarn keine Ruhe mehr zu geben.
Wenn stimmt, was man sich erzählte, sprach ein gemeißeltes Steingesicht in Moquihuix' Thronsaal plötzlich zu ihm. Was es sagte, war so beleidigend für sein Mannestum, daß er eine Kriegskeule ergriff und das Bildwerk zertrümmerte. Als er dann mit seiner Ersten Gemahlin zu Bett stieg, sprachen auch ihre Tipili-Teile zu ihm und Versehrten sein Mannestum. Abgesehen davon, daß diese Ereignisse Moquihuix selbst bei seinen Nebenfrauen kraftlos machten, jagten sie ihm große Angst ein; dennoch weigerte er sich immer noch, sich dem Verehrten Sprecher zu unterwerfen und ihm Treue zu schwören. Deshalb hatte Axayácatl ein Jahr, bevor ich anläßlich meines Namensgebungstages zu Besuch in die Stadt kam,
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