Der Azteke
viele von den früher gezeichneten Originalen bruchstückhaft und durch die Reisen selbst mitgenommen und verschmutzt wären, einige auf schlechtem Papier und manche sogar auf die Blätter von Schlingpflanzen gezeichnet und mir daran gelegen sei, dem Verehrten Sprecher frische, saubere und haltbare Karten zu übergeben. Meine Entschuldigung beruhte nicht ganz auf Unwahrheit, doch mein eigentlicher Grund war, daß die Originalkarten mir zu kostbar waren als Erinnerungen an meine Wanderungen, von denen ich einige in Begleitung meiner geliebten Zyanya gemacht hatte, und ich sie einfach für mich aufbewahren wollte.
Außerdem konnte es sein, daß ich dieselben Straßen noch einmal entlangziehen wollte, möglicherweise, um nicht zurückzukehren, falls die Herrschaft Motecuzómas mir Tenochtítlan verleiden sollte. Eine mögliche Auswanderung im Kopf, unterschlug ich ein paar bedeutsame Einzelheiten auf den Kopien, welche ich dann dem Uey-Tlatoáni übergab. Zum Beispiel unterließ ich es, die entsprechenden Hinweise bei dem schwarzen See einzutragen, wo ich durch Zufall auf die gigantischen Eberhauer gestoßen war; sollte es dort noch weitere Schätze dieser Art geben, konnte es sein, daß ich eines Tages auf sie angewiesen war.
Wenn ich nicht arbeitete, verbrachte ich soviel Zeit wie möglich mit meiner Tochter. Ich hatte es mir zur angenehmen Gewohnheit gemacht, ihr jeden Nachmittag eine Geschichte zu erzählen, und selbstverständlich erzählte ich ihr solche Abenteuer, von denen ich meinte, daß sie mich in ihrem Alter am meisten interessiert hätten. Die meisten der Geschichten beruhten selbstverständlich auf meinen eigenen Erlebnissen: Geschichten, in denen etwas passierte, in denen es gewalttätig und höchst abenteuerlich zuging. Die meisten beruhten ja auf eigenen Erlebnissen. Ich schmückte sie nur ein wenig aus oder rückte die Wahrheit ein wenig zurecht, wie es sich gerade ergab. Bei solchen Geschichten mußte ich oft aufbrüllen wie ein gereizter Jaguar, zetern wie ein zorniger Klammeraffe oder heulen wie ein schwermütiger Kojote. Wenn Cocóton bei den Lauten, die ich ausstieß, in Angst und Schrecken geriet, war ich stolz auf mein Talent, ein Abenteuer so lebendig zu erzählen, daß ein Zuhörer fast meinte, dabeizusein. Doch eines Tages kam mein Töchterchen zur gewohnten Stunde und erklärte feierlich:
»Können wir sprechen, wie Erwachsene es tun, Tete?«
Mich erheiterte dieser förmliche Ernst bei einem Kind, das noch keine sechs Jahre alt war, entgegnete jedoch nicht minder ernst: »Das können wir, Krümelchen. Woran denkst du?«
»Ich möchte sagen, daß meiner Meinung nach die Geschichten, die du erzählst, für die Ohren eines jungen Mädchens nicht gerade geeignet sind.«
Etwas überrascht, sogar ein wenig gekränkt, sagte ich. »Sag mir, was du an meinen Geschichten auszusetzen hast.«
Gleichsam als gälte es, ein womöglich noch kleineres Kind als sie selbst zu besänftigen, sagte sie: »Ich bin sicher, es sind sehr gute Geschichten. Und ich bin auch sicher, ein Junge würde sie bestimmt sehr gern hören. Ich glaube, Jungen haben es gern, wenn ihnen angst und bange wird. Mein Freund Chacalín« – sie machte eine entsprechende Handbewegung zum Haus unserer Nachbarn hinüber – »stößt manchmal Tierlaute aus, und seine eigenen Laute bringen ihn dann zum Weinen. Wenn du möchtest Tete, bringe ich ihn jeden Nachmittag her, damit er sich an meiner Stelle deine Geschichten anhört.«
Vielleicht ein wenig verstockt sagte ich: »Chacalín hat selbst einen Vater, der ihm Geschichten erzählen kann. Zweifellos schrecklich aufregende Geschichten, die Erlebnisse eines Töpfereiwarenhändlers auf dem Tlaltelólco-Markt. Aber Cocóton, ich habe nie gemerkt, daß du bei meinen Geschichten geweint hättest.«
»Oh, das würde ich auch nicht. Jedenfalls nicht, solange du dabei bist. Ich weine nachts im Bett, wenn ich allein bin. Denn dann erinnere ich mich an die Jaguare und die Schlangen und die Räuber, und sie werden in der Dunkelheit womöglich noch lebendiger und jagen im Traum hinter mir her.«
»Mein liebes Kind«, rief ich aus und zog sie an mich. »Warum hast du mir das nie gesagt?«
»Ich bin nicht sehr tapfer.« Sie barg ihr Gesicht an meiner Schulter. »Jedenfalls nicht großen Tieren gegenüber. Und großen Vätern gegenüber wahrscheinlich auch nicht.«
»Von jetzt an«, versprach ich, »werde ich versuchen, kleiner zu erscheinen. Und ich werde dir auch nicht mehr von wilden
Weitere Kostenlose Bücher