Der Azteke
vernünftig gehalten hatte. Ich sagte: »Die Azteca sind aus dem Norden gekommen. Wohin sollte ich also sonst?«
»Der Norden, das ist kein Ort«, erklärte er, als habe er es mit einem zu tun, der recht begriffsstutzig war. »Norden ist eine Himmelsrichtung, und eine höchst unbestimmte dazu. Du bist bereits zu weit nach Norden gekommen.«
Ich rief: »Dann liegt Aztlan hinter mir?«
Er gluckste angesichts meines Entsetzens. »Hinter dir, neben dir und weiter zurück.«
Ungeduldig sagte ich: »Und du sprichst von ungenauen Himmelsrichtungen.«
Immer noch lachend, fuhr er fort: »Dadurch, daß du dich die ganze Zeit über nur an die Wüste gehalten hast, bist du zwar immer nach Westen und nach Norden weitergekommen, nicht jedoch weit genug nach Westen. Wärest du nicht durch die Vorstellung von dem Norden irregeleitet hättest du Aztlan längst gefunden, ohne die Wüste jemals bezwingen, ja, ohne die lebenden Lande überhaupt jemals verlassen zu müssen.«
Ich stieß einen gurgelnden Laut aus, als würde ich erwürgt.
Der Häuptling fuhr fort:
»Nach den Vätern meiner Väter, lag unser Aztlan irgendwo südwestlich von dieser Wüste, an der Küste, am Ufer des großen Meeres, und mehr als ein Aztlan hat es gewiß nie gegeben. Aber von dort aus sind unsere – und deine – Ahnen in den vielen, Schock Jahre vielen verschlungenen Pfaden gefolgt. Dabei ist es durchaus denkbar, daß die Azteca auf dem letzten Abschnitt dieser Reise direkt von Norden dorthin gekommen sind, wo heute Tenochtítlan liegt. Doch wie dem auch sei, Aztlan müßte eigentlich nordwestlich von dort liegen.«
»Dann muß ich also wieder zurück … südwestlich von hier …«, murmelte ich und bedauerte all die vielen ermüdenden und anstrengenden Ein Langer Lauf, die ich zurückgelegt hatte, und den Schmutz und das Elend, das ich nutzlos auf mich genommen hatte.
Der alte Saft zuckte mit den Achseln. »Ich behaupte nicht, du mußt. Aber wenn du wirklich weitergehen willst, rate ich dir zumindest davon ab, noch weiter nach Norden zu ziehen. Dort liegt Aztlan jedenfalls nicht. Weiter im Norden gibt es nur noch mehr Wüste, schreckliche, erbarmungslose Wüste, in welcher nicht einmal die abgehärteten Mapimi leben können. Nur die Yaki können auf kurzen Raubzügen in die Wüste vorstoßen, doch vermögen sie das nur, weil sie noch grausamer sind als die Wüste selbst.«
Voller Traurigkeit angesichts dieser Erinnerung sagte ich: »Ich weiß, wie die Yaki sind. Ich werde umkehren, Häuptling Saft, wie du mir rätst.«
»Zieh dorthin!« Er wies gen Süden, wo Tonatíu, ohne seinen Federmantel auszubreiten, hinter unbestimmten grauweißen Bergen auf sein hartes Lager niedersank, Bergen, welche die ganze Zeit hindurch, da ich durch die Wüste gezogen war, mit mir Schritt gehalten hatten. »Wenn du Aztlan finden möchtest, mußt du zu diesen Bergen und über sie hinweg, mußt durch diese Berge hindurch. Du mußt auf die andere Seite dieser Bergkette gelangen.«
Und genau das tat ich: Ich wandte mich nach Südwesten, auf die Berge zu, über sie hinweg und durch sie hindurch, bis ich auf der gegenüberliegenden Seite ankam. Ich hatte diese blasse Bergkette jetzt über ein Jahr lang in der Ferne immer vor Augen gehabt und erwartete nun, steile Granitwände überwinden zu müssen. Doch als ich mich ihnen näherte, erkannte ich, daß sie nur aus der Ferne so furchtgebietend ausgesehen hatten. Die niedrigen Vorberge waren kaum mit dem für die Wüste typischen staubbedeckten Gesträuch bedeckt; vielmehr wurde der Pflanzenwuchs zunehmend dichter und grüner, je weiter ich vorankam. Die eigentlichen Berge erwiesen sich, als ich sie erreichte, als genauso bewaldet und gastlich wie jene, die ich im Rarámuri-Land kennengelernt hatte.
Ich stieß auf Höhlensiedlungen, deren Einwohner Ähnlichkeit mit den Rarámuri aufwiesen – selbst in bezug auf die Körperbehaarung –, auch eine sehr ähnliche Sprache sprachen und mir berichteten, sie seien Verwandte dieser Rarámuri, deren Gebiet, wie sie sagten, wesentlich weiter im Norden eben dieses selben Gebirgszuges liege.
Als ich dann endlich auf der anderen Seite der Bergkette von diesen Höhen herunterkam, stieß ich auf die Meeresküste, und zwar irgendwo südlich jenes Strands, an dem ich nach meiner unfreiwilligen Seefahrt vor über zehn Jahren gelandet war. Dieser Küstenstrich heißt Sinalobóla, wie ich von den Fischerstämmen erfuhr, deren Dörfer diese Küste säumten. Dieses Volk, die Kaita,
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