Der Azteke
hatte.
Je näher ich der Heimat kam, desto mehr wollte es mir vorkommen, als hätte die gesammelte uralte Vergangenheit meinen ganzen Geist, meine Muskeln und meine Knochen durchdrungen. Mir war, als trüge ich die Last all der vielen Schock Jahre, welche seit Beginn der Geschichte vergangen waren, und ich glaube nicht, daß ich mir diese Bürde nur einbildete. Es gab Beweise, daß sie in der Tat auf mir lasteten. Ich verlangsamte den Schritt, ging gebeugter dahin als zuvor. Wenn es höhere Berge zu überwinden galt, geriet ich außer Atem, und wenn ich mich besonders steile Hänge hinaufmühte, hämmerte mein Herz mir gegen die Rippen und beschwerte sich.
Wegen meines Gefühls, daß mir sämtliche Zeitalter der Welt aufgebürdet worden seien, schwenkte ich vom geraden Wege ab, als ich mich Tenochtítlan näherte. Die Stadt war für die Stimmung, in welcher ich mich befand, zu modern, und so beschloß ich, erst eine ältere Stätte aufzusuchen, einen Ort, den ich bisher noch nie besucht hatte, wiewohl er nicht weit östlich von jenem Ort liegt, wo ich geboren worden war. Ich wollte jene Stätte sehen, die im gesamten Gebiet als erste besiedelt worden war, den Boden, wo die früheste Zivilisation in diesen Landen geblüht hatte. Folglich schlug ich einen Bogen um die Seen-Senke; erst wandte ich mich nach Norden, dann nach Südosten, blieb auf dem Festland und gelangte zuletzt in die uralte Stadt, wo alle Zeitalter lebendig sind – nach Teotihuácan, Den Ort, Wo Die Götter Sich Versammelten.
Es ist nicht bekannt, wie vieler Schock um Schock Jahre die Stadt sich in träumerischem Schweigen entsinnt. Teotihuácan ist heute eine Ruine, wenn auch eine erhabene Ruine, und ist eine Ruine gewesen, solange die Aufzeichnungen über die Geschichte all der Völker zurückreichen, welche in diesem Gebiet gelebt haben. Das Pflaster ihrer breiten Alleen ist längst vom Treibsand zugeweht und von Unkraut überwuchert worden. Von den vielen Tempeln sind nichts weiter als die Trümmer ihrer Fundamente zu erkennen. Ihre Pyramiden ragen zwar immer noch über die Ebene hinaus, aber ihre obersten Spitzen sind abgestumpft, die geraden Linien und scharfen Kanten durch die Zeit und die Unbilden der Witterung so verwittert und verunstaltet, daß man sie kaum noch erkennen kann. Die Farben, in welchen die Stadt einstmals erstrahlte, sind längst abgewaschen – das Strahlen des weißen Stucks, der Schimmer getriebenen Golds, der Glanz vieler verschiedener Farben – und so ist die Stadt heute genauso falbfarben und grau wie die Felsen, welche einst ihre Grundmauern bildeten. Nach der Überlieferung der Mexíca ist die Stadt von den Göttern errichtet worden, als Stätte, wo sie sich versammeln konnten, um ihre Pläne zu schmieden für die Erschaffung der übrigen Welt. Daher der Name, welchen wir ihr gaben. Doch nach Ansicht meines alten Geschichtslehrers beruhte diese Legende nur auf einer romantischen Vorstellung; in Wirklichkeit ist die Stadt doch von Menschen erbaut worden. Gleichwohl – das vermochte ihr von ihrer Herrlichkeit kaum etwas zu nehmen, denn diese Menschen müssen die längst verschwundenen Toltéca gewesen sein, und diese Meisterhandwerker waren bewunderungswürdige Baumeister.
Ach, Teotihuácan zu sehen, wie ich es das erstemal sah – in einem besonders farbenprächtigen Sonnenuntergang, da seine Pyramiden aus dem Flachland in die Höhe ragten und in diesem Licht aussahen, als seien sie in das herrlichste Rotgold gekleidet schimmernd vor dem violetten Hintergrund ferner Berge und einem tiefblauen Himmel! Das ist ein so überwältigender Anblick, daß man ohne weiteres glauben möchte, die Stadt sei doch ein Werk der Götter, oder, wenn doch von Menschen erbaut, zumindest von einem göttergleichen Menschengeschlecht.
Ich zog von ihrem Nordrand her in die Stadt ein und suchte mir den Weg zwischen den heruntergefallenen Steinquadern jener Pyramide, von welcher unsere Weisen Männer der Mexíca annahmen, sie sei dem Mond geweiht gewesen. Diese Pyramide ist mindestens eines Drittels ihrer ursprünglichen Höhe verlustig gegangen, die Spitze ist von der Zeit abgetragen worden, und die Treppe führt zu einem Durcheinander von lockeren Feldquadern hinauf, die dort umherliegen. Umgeben ist die Mondpyramide von gestürzten Säulen und Mauern von Gebäuden, welche einst zwei oder drei Stockwerke hoch gewesen sein müssen. Ein Bauwerk nannten wir Den Palast Der Schmetterlinge wegen der Fülle von diesen freundlichen
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