Der Azteke
fügte er noch hinzu: »Ich bin froh, daß sie sich heute jedenfalls nicht mehr Azteca nennen.«
Schweigend, wie vor den Kopf geschlagen und benommen, stand ich da, bis mir einfiel zu fragen: »Und was ist mit dem Fremdling geschehen, dem sie ihre Verbannung zu verdanken hatten?«
»Ach, die gehörte selbstverständlich zu den ersten, welche erschlagen wurden.«
»Sie?«
»Habe ich nicht erwähnt, daß es sich bei dem Fremdling um eine Frau handelte? Jawohl, alle unsere Geschichtserinnerer erinnern sich, daß es sich um eine entlaufene Yaki gehandelt hat.«
»Aber das ist ja unglaublich!« rief ich aus. »Was sollte denn eine Yaki-Frau von Huitzilopóchtli oder irgendeinem anderen Gott der Azteca wissen?«
»Ehe sie zuletzt hierherkam, war sie weit herumgekommen und hatte ohne Zweifel viel gehört. Mit Sicherheit hatte sie unsere Sprache erlernt. Einige von unseren Geschichtserinnerern haben gemeint, sie müsse auch noch eine Zauberin gewesen sein.«
»Gleichviel« – ich ließ nicht locker –, »warum sollte sie zur Verehrung eines Gottes Huitzilopóchtli aufrufen, der keiner ihrer Götter war?«
»Oh, da sind wir nur auf Mutmaßungen angewiesen. Freilich ist es bekannt, daß die Yaki hauptsächlich von der Hirschjagd leben, und ihr Hauptgott ist jener Gott, der ihnen dieses Wild zutreibt, der Gott, den wir Mixcóatl nennen. Immer wenn die Yaki feststellen, daß das Wild abnimmt, feiern sie eine ganz bestimmte Zeremonie. Sie nehmen eine ihrer Frauen, die ihnen nicht so wichtig ist, und schlachten und zerteilen sie, wie sie es mit dem Hirsch tun würden, der ihnen lebendig in die Hände fiele, und tanzen um sie herum wie nach einer erfolgreichen Jagd. In ihrem einfältigen, wilden Glauben können sie ihren Jagdgott auf diese Weise dazu bewegen, den Hirschbestand in ihren Wäldern wieder aufzufüllen. Zumindest ist bekannt, daß die Yaki früher diese Dinge getan haben. Vielleicht sind sie heute nicht mehr ganz so wild.«
»Ich glaube, sie sind es«, sagte ich. »Aber ich begreife nicht, wieso das zu dem geführt haben soll, was hier geschehen ist.«
»Die Yaki-Frau ist ihrem Volk entflohen, um eben diesem Geschick zu entgehen, das nur den Frauen vorbehalten war. Ich wiederhole, es sind nur Mutmaßungen, aber unsere Erinnerer haben immer gemeint, daß diese Frau vor Begierde brannte, die Männer auf die gleiche Art leiden zu sehen. Alle Männer. Ihr Haß erstreckte sich blindlings auf alle. Und hier fand sie nun die Gelegenheit, die sie immer gesucht hatte. Vielleicht ist sie aber auch durch unsere eigenen Glaubensvorstellungen überhaupt erst darauf gekommen, denn vergiß eines nicht: Huitzilopóchtli hat Coyolxaúqui erschlagen und zerstückelt und dabei nicht mehr Bedauern bewiesen, als Yaki es getan hätten. Indem diese Frau so tat, als bewundere und verehre sie Huitzilopóchtli, hoffte sie, unsere Männer dazu zu bringen, sich zu bekämpfen, sich umzubringen, gegenseitig ihr Blut zu vergießen und sich die inneren Organe herauszureißen, wie es ihr bei den Yaki ums Haar widerfahren wäre.«
Ich war so erschrocken, daß ich nur flüstern konnte: »Eine Frau? Irgendeine unwichtige und namenlose Frau ist es gewesen, welche auf den Gedanken gekommen ist, Menschenopfer darzubringen? Jene Zeremonie, die jetzt überall praktiziert wird?«
»Hier wird sie nicht praktiziert«, wies Canautli mich zurecht. »Und möglicherweise gehen wir mit unserer Mutmaßung völlig an der Wirklichkeit vorbei. Immerhin ist das alles lange, lange her. Doch hört es sich nach einer Rache an, auf die insbesondere eine Frau verfallen kann, oder? Und offensichtlich hatte sie damit Erfolg, denn du hast doch erwähnt, daß in der Welt draußen die Männer immer noch nicht aufgehört haben, sich im Namen dieses oder jenes Gottes gegenseitig umzubringen.»
Ich schwieg. Ich wußte einfach nicht, was ich sagen sollte.
»Du siehst also«, fuhr der alte Mann fort, »daß es sich bei den Azteca, die Aztlan verlassen haben, keineswegs um die Besten und Kühnsten gehandelt hat. Es waren vielmehr die Schlimmsten und unsere Unerwünschtesten, und fortgezogen sind sie, weil sie dazu gezwungen wurden.«
Als ich immer noch schwieg, fuhr er fort:
»Du sagst, du seiest auf der Suche nach den Vorratslagern, welche deine Ahnen auf ihrem langen Weg von hier bis zu euch angelegt haben sollen. Gib diese Suche auf, Vetter. Du suchst vergeblich. Selbst wenn es diesen Menschen gestattet worden wäre, irgendwelche nützlichen Dinge oder Dinge von Wert
Weitere Kostenlose Bücher