Der Azteke
schweifen – von dieser Höhe aus war das möglich –, und unter Zuhilfenahme meines Sehkristalls erkannte ich die vielen, krautüberwucherten Vertiefungen und Erhebungen zu beiden Seiten der Allee der Toten: die Stellen, wo mehr Wohnhäuser gestanden hatten als in Tenochtítlan. Dann jedoch sah ich noch etwas, und das erschreckte mich so sehr, daß ich zusammenfuhr: ferne kleine Feuer, die aufblühten. Erwachte die tote Stadt wieder zum Leben? Dann jedoch erkannte ich, daß es sich um Fakkein handelte, welche in einer langen Doppelreihe von Süden näherkamen. Vorübergehend wallte Ärger in mir auf, daß ich die Stadt nicht mehr für mich allein haben sollte. Freilich wußte ich, daß häufig allein oder in Gruppen – aus Tenochtítlan, aus Texcóco und noch anderswoher – Pilger hierherkamen, um zu beten und Opfergaben darzubringen an dem Ort, wo die Götter sich einst versammelt hatten. Sogar ein Lagerplatz war für solche Besucher vorhanden: ein großes, rechteckiges, tiefergelegenes Wiesenstück am südlichen Ende der Hauptallee. Dies soll ursprünglich der Marktplatz gewesen sein, und unter dem Gras müßten noch Umfassungsmauern und ein steingepflasterter Platz zu finden sein.
Die Nacht war vollends dunkel geworden, als die Prozession der Fackeln diese Stelle erreicht hatte, und eine Zeitlang beobachtete ich, wie einige stehenblieben und einen Kreis bildeten, während andere sich hin- und herbewegten; offenbar waren die Fackelträger damit beschäftigt, ein Lager aufzuschlagen. Als ich sicher war, daß keiner der Pilger sich vor morgen weiter in die Stadt vorwagen würde, drehte ich mich auf der Plattform um und beobachtete, wie im Osten früh der Mond aufging. Er war voll, vollkommen rund und von einer Schönheit wie der Coyolxauqui-Stein in Aztlan. Als er bereits ein ganzes Stück über der fernen gewellten Linie der Berge stand, drehte ich mich nochmals um und betrachtete in seinem milden Schein noch einmal Teotihuacan. Ein sanfter Nachtwind hatte die Bodennebel vertrieben, und so standen die vielen Bauten im blauweißen Mondlicht in jeder Einzelheit deutlich erkennbar da und warfen dunkle schwarze Schatten auf den blauen Boden.
Nahezu alle Wege und die Tage meines Lebens waren fiebrig und ereignisreich gewesen; geruhsame Pausen hatte es darin kaum gegeben, und ich erwartete, daß das so weitergehen würde bis an ihr Ende. Doch eine kleine Weile saß ich heiter und gelassen da, und der Augenblick und diese Ruhe galten mir viel. Ich fühlte mich sogar getrieben, ein Gedicht zu machen, das einzige, welches ich je in meinem Leben geschrieben. Es ging darin kaum um Tatsachen oder um Geschichte: Es wurde mir einzig von der mondübergossenen Schönheit und der Ruhe des Ortes und der Zeit eingegeben. Als ich das Gedicht in meinem Kopf fertig hatte, erhob ich mich, stand hochaufgereckt auf der Spitze der Sonnenpyramide und sprach das Gedicht laut auf die leere Stadt hinunter:
Einst, da nichts war als Nacht,
Versammelten sie sich, in unvordenklicher Zeit
– all die Götter mit der allergrößten Macht –
Und planten, wann es hell werden solle und Tag.
Hier …
In Teotihuácan.
»Sehr schön«, ertönte eine Stimme, nicht meine eigene, und ich fuhr zusammen, daß ich fast von der Pyramide hinuntergesprungen wäre. Die Stimme sprach das Gedicht für mich noch einmal, Wort für Wort, langsam und jedes einzelne Wort auskostend, und ich erkannte die Stimme. Später habe ich es erlebt, daß bei anderen Gelegenheiten andere mein kleines Gedicht aufsagten, doch niemals wieder hörte ich es von Herrn Motecuzóma Xocóyotl, Cem-Anáhuac Uey-Tlatoáni, dem Verehrten Sprecher Der Einen Welt.
»Sehr hübsch«, wiederholte er. »Zumal Adlerritter sonst nicht dafür bekannt sind, daß sie eine dichterische Ader hätten.«
»Oder eine Ader für Ritterlichkeit«, sagte ich trübselig, denn ich wußte, daß auch er mich erkannt hatte.
»Keine Angst, Ritter Mixtli«, sagte er, ohne daß man seiner Stimme irgendeine Gemütserregung angemerkt hätte. »Deine alten Kämpen haben alle Verantwortung für das Fehlschlagen des Versuchs, in Yanquitlan eine Kolonie zu gründen, auf sich genommen. Folglich sind sie hingerichtet worden. Es steht also keine Schuld aus, die zu begleichen wäre. Und ehe sie sich die blumenumwundene Würgschlinge um den Hals legten, haben sie von deinem Forschungsvorhaben berichtet. Wie ist es dir damit ergangen?«
»Nicht besser als mit Yanquitlan, Hoher Gebieter«, sagte ich und unterdrückte den
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