Der Azteke
Boden und …
»Der Wind kommt von rechts«, rief ein anderer Junge ganz aufgeregt. »Falsch gezielt haben wir nicht! Nur hat der Wind unsere Pfeile vom Ziel abgelenkt.«
»Wenn ihr euer Ziel verfehlt«, erklärte der Lehrmeister trocken, »habt ihr falsch gezielt. Es auf den Wind zu schieben, ist keine Entschuldigung. Wenn ihr richtig zielen wollt, müßt ihr die Stärke und die Richtung berücksichtigen, in welcher Ehécatl seine Windtrompete bläst. Um das zu erkennen, dazu ist der Federwimpel da. Die Richtung, in die er zeigt, ist gleichzeitig auch die Richtung, in der eure Pfeile abgetrieben werden. Und wie hoch er hängt, zeigt euch, wie stark der Wind die Pfeile abtreiben wird. Jetzt marschiert alle miteinander hin und holt euch eure Pfeile wieder, macht kehrt, bildet ein Glied und zielt auf mich. Der erste Junge, der mich trifft, dem sollen selbstverdiente Prügelstrafen für zehn Tage erlassen bleiben.«
(Wir marschierten nicht, wir rannten zu unseren Pfeilen und schickten sie fröhlich zu unserem Cuachic zurück, doch keiner traf.)
Zum Kampf unter Pfeilschußweite diente der Wurfspieß, eine schmale kurze, zugespitzte Obsidianklinge vorn an einem kurzen Schaft. Der Schaft dieser Waffe war ungefiedert, so daß Zielgenauigkeit und Durchschlagskraft einzig davon abhingen, daß sie mit äußerster Kraft geschleudert wurde.
»Deshalb schleudert ihr den Wurfspieß nicht ohne Hilfsmittel, sondern bedient euch des Atlatl-Wurfholzes«, sagte Blut Schwelger. »Was aber ist so ein Wurfholz? Wenn ihr zuerst damit umgeht, mag es euch furchtbar umständlich erscheinen, doch nach einiger Übung merkt ihr, was dieser Atlatl ist: eine Verlängerung eures Arms und eine Verdoppelung eurer Kraft. Auf eine Entfernung von dreißig langen Schritten könnt ihr mit seiner Hilfe einen Wurfspieß durch einen mannsdicken Stamm treiben. Also stellt euch vor, meine jungen Freunde, was geschieht, wenn ihr ihn auf einen Menschen schleudert.«
Des weiteren gab es den Langspeer mit der breiteren und schwereren Obsidianspitze, der zum Stoßen, Werfen und Durchbohren dient, ehe man mit dem Feind wirklich handgemein wird. Doch dafür, den unvermeidlichen Nahkampf, gab es das Maquáhuitl genannte Schwert. Der Name, der soviel bedeutet wie »Jagdholz« klingt recht harmlos, dennoch war das Schwert die schrecklichste und mörderischste Waffe unseres Arsenals.
Das Maquáhuitl war ein abgeflachter Knüttel aus Hartholz, armlang und handbreit; die beiden Schneiden waren über die ganze Länge mit Obsidiansplittern besetzt. Der Griff des Schwertes war lang genug, es sowohl ein-als auch beidhändig zu führen und war so geschnitzt, daß es sich der Hand des Schwertkämpfers am besten anpaßte. Die Obsidiansplitter waren nicht nur in das Holz eingeklemmt; von diesem Schwert hing so viel ab, daß selbst Zauberei nicht verschmäht wurde, es zu stärken. Die scharfen und harten Splitter wurden fest mit einem verzauberten Kleister aus flüssigem Oli, dem kostbaren und wohlduftenden Copáli-Harz und frischem Blut verkittet, das die Priester des Kriegsgottes Huitzilopochtli spendeten.
Obsidian ergibt furchterregend aussehende Pfeil- und Speerspitzen oder Schwertklingen, blitzend wie Quarzkristall, doch so schwarz wie Mictlan, die Gegenwelt. Richtig aufgesplittert, ist der Stein so scharf, daß er genauso sauber schneiden kann wie manche harten Gräser, und Wunden von einer Tiefe zu schlagen vermag wie eine Streitaxt. Der einzige Nachteil des Obsidian ist seine Sprödigkeit; prallt er gegen den Schild eines Feindes oder gegen dessen Schwert, kann er zersplittern. Aber in der Hand eines erfahrenen Kämpfers vermag das obsidianbewehrte Maquáhuitl Fleisch und Knochen ebenso sauber zu durchschneiden wie ein Büschel Schilfrohr – und in unseren bedingungslosen und erbitterten Kriegen sind die Feinde nichts anderes als Schilfrohre, die es umzumähen gilt, wie Blut Schwelger nicht müde wurde, uns immer wieder einzubleuen.
Genauso, wie unsere Spielzeugpfeile, – Wurfspieße und -speere mit Pfropfen aus Óli-Gummi unschädlich gemacht wurden, wurde auch unserem Spielzeug-Maquáhuitl die Schärfe genommen. Der abgeflachte Knüttel bestand aus leichtem weichen Holz, damit das Schwert eher zerbrach, als daß es einen allzu gefährlichen Hieb austeilte. Und statt mit Obsidiansplittern waren die Schneiden mit Daunenfedern besetzt. Ehe zwei Schüler mit dem Schwert gegeneinander kämpften, tränkte der Lehrmeister die Federn mit roter Farbe, so daß jeder
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