Der Azteke
ihr dafür gebraucht? – jawohl, Euer Exzellenz, ich glaube, der war bei allen bekannten Völkern verpönt. Und Ihr habt recht, wir riskierten den Tod, wenn man uns erwischte. Für die Paarung zwischen Bruder und Schwester, Vater und Tochter, Mutter und Sohn, Onkel und Nichte und so weiter sah das Gesetz besonders schauerliche Formen der Hinrichtung vor. Freilich galt dieses Gebot nur für uns Macehuáltin, die Gemeinfreien, also die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Wie ich schon zuvor bemerkt habe, gab es Adelsgeschlechter, die dadurch, daß sie ausschließlich nahe Verwandte heirateten, danach trachteten, das zu erhalten, was sie die »Reinheit des Blutes« nannten; es ist jedoch nie bewiesen worden, daß die aus solchen Ehen stammende Nachkommenschaft sich je besonders hervorgetan oder etwas Besonderes geleistet hätte. Und was sich in der Masse der Sklaven abspielte – Notzucht, Inzest, Ehebruch, was ihr wollt-, so nahmen selbstverständlich weder das Gesetz noch die Tradition, noch die Menschen ganz allgemein irgendwelche Notiz davon.
Aber Ihr fragt, wie meine Schwester und ich während der langen Zeit, da wir der Sünde frönten, der Entdeckung entgingen. Nun, da wir wegen weit geringerer Vergehen schon so hart von unserer Mutter gezüchtigt worden waren, hatten wir beide gelernt, in all diesen Dingen außerordentlich vorsichtig zu sein. Es kam die Zeit, da ich mondelang von Xaltocan fort war; dann sehnte ich mich schmerzlich nach Tzitzitlíni und sie sich nach mir. Kam ich dann jedoch heim, gab ich ihr nur einen kühlen brüderlichen Kuß auf die Wange, setzten wir uns nicht nebeneinander und verbargen den Aufruhr, der in uns tobte, solange ich unseren Eltern und den stets auf Neuigkeiten brennenden Verwandten und Freunden von all den vielen Geschehnissen in der Welt außerhalb Xaltócans berichtete. Es konnten Tage vergehen, ehe Tzitzi und ich Gelegenheit fanden oder suchten, insgeheim und ohne Gefahr allein zusammen zu sein. Ah, aber dann: das hastige Entkleiden, die erregten Zärtlichkeiten, die erste Erlösung – als ob wir beide auf dem Hang unseres eigenen kleinen, geheimen und erwachenden Vulkans lägen – und später die gemächlicheren Liebkosungen und die nüchterneren und um so köstlicheren Entladungen …
Daß ich jedoch von der Insel abwesend war, dazu kam es erst später. Jedenfalls wurden meine Schwester und ich bis dahin nie beim Zusammensein überrascht. Selbstverständlich wären wir in allergrößte Schwierigkeiten geraten, hätten wir bei einer einzigen oder, wie die Christen, bei jeder Paarung ein Kind bekommen. Der Gedanke daran mag mir selber nie gekommen sein: Welcher Junge kann sich schon vorstellen, Vater zu sein? Aber Tzitzi war eine Frau und damit weiser in diesen Dingen. Infolgedessen hatte sie Vorsorge getroffen, nicht schwanger zu werden.
Jene alten Frauen, von denen ich vorhin gesprochen habe, verkauften unverheirateten jungen Mädchen in aller Heimlichkeit – so wie die Heilkundigen und Heilkräuterverkäufer ganz offen an jene verheirateten Paare, die nicht jedesmal ein Kind bekommen wollten, wenn sie miteinander ins Bett gingen – ein Pulver, das aus gemahlenem Tlatlaohuéhuetl gewonnen wird, wie die Süßkartoffel ein Knollengewächs, nur hundertmal größer; ihr nennt sie die Jalapa-Wunderblume. Eine Frau, die täglich ein wenig fein zerstoßener Wunderblumen-Knolle zu sich nimmt, läuft nicht Gefahr, schwanger zu werden.
Verzeiht, Euer Exzellenz, ich hatte keine Ahnung, etwas Gotteslästerliches zu sagen. Bitte, nehmt wieder Platz.
Ich muß freilich gestehen, daß ich persönlich sehr wohl Gefahr lief, entdeckt zu werden, selbst, wenn ich nicht in Tzitzis Nähe war. Während unserer abendlichen Unterweisung im Kriegshandwerk im Haus der Leibesstärkung wurden regelmäßig kleine Gruppen von sechs oder acht Jungen an abgelegene Plätze oder in Baumgruppen geschickt, wo wir vorgeblich »Wache hielten, um einen Überfall auf die Schule zu vereiteln«. Das war immer besonders langweilig, und so vertrieben wir uns die Zeit damit, daß wir mit Springbohnen Patóli spielten.
Doch dann – wer es war, weiß ich heute nicht mehr – entdeckte einer von den Jungen den »einsamen Akt«. Der Junge war dieserhalb weder verlegen, noch behielt er seine Entdeckung für sich, sondern führte uns anderen augenblicklich sein neu erlerntes Kunststück vor. Von da an vergaßen die Jungen die Springbohnen, wenn sie Wache hielten: sie trugen ihr Spielzeug immer bei sich.
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