Der Azteke
ich es richtig beurteilte, führten die Rohre in der Ferne zu einem im Südosten gelegenen noch höheren Berg, von wo sie ohne Zweifel das Wasser eines reinen Quells herbeibrachten und es verteilten, indem sie ihm gestatteten, sich bei sanftem Gefalle selbst seinen Weg zu suchen.
Da ich nicht umhin konnte, zu verweilen und die verschiedenen Gartenanlagen und Parks zu bewundern, durch welche ich hinunterschritt, war es nahezu Sonnenuntergang geworden, als ich schließlich unten am Fuße des Hügels herauskam. Ich ging blumengesäumte weiße Kiespfade entlang und begegnete vielen Menschen: Edelleuten und Edelfrauen in reichgeschmückten Umhängen, Rittern mit gefiedertem Kopfputz und vornehm aussehenden älteren Herren. Ein jeder von ihnen entbot mir freundlich seinen Gruß oder nickte mir huldvoll zu, als ob ich hierhergehörte, doch war ich zu schüchtern, diese eleganten Leute zu fragen, wohin ich mich nun eigentlich wenden solle. Dann jedoch traf ich auf einen jungen Mann etwa meines eigenen Alters, der offensichtlich nichts Besonderes zu tun hatte. Er stand neben einem weißen Hirsch, dem gerade das Gehörn zu sprießen begann, und kraulte ihm müßig die Hornansätze zwischen den Ohren. Vielleicht jucken sprießende Hörner; auf jeden Fall schien das Tier das Kraulen zu genießen.
»Mixpantzinco, Bruder«, grüßte der junge Mann mich. Ich nahm an, daß er einer von Nezahualpílis Sprößlingen sei und er mich gleichfalls für einen solchen hielt. Doch dann bemerkte er den Korb, den ich unterm Arm trug, und er sagte: »Du bist der neue Mixtli.«
Ich sagte, ja, der sei ich, und erwiderte seinen Gruß.
»Ich bin Huexotl«, sagte er; der Name bedeutet soviel wie »Weide«. »Wir haben schon mindestens drei andere Mixtlis hier, deshalb müssen wir uns einen anderen Namen für dich ausdenken.«
Da ich kein Bedürfnis verspürte, wieder einen anderen Namen zu bekommen, wechselte ich das Thema. »Ich habe noch nie Hirsche unter Menschen umhergehen sehen, nicht eingesperrt und so ohne jede Angst.«
»Wir bekommen sie, wenn sie noch kleine Kitze sind. Die Jäger finden sie, wenn eine Hirschkuh erlegt worden ist, und dann bringen sie die Kälber hierher. Eine Amme mit vollen Brüsten, die aber im Augenblick kein Baby zu nähren hat, findet sich immer irgendwo, und so säugt sie dann das Kitz. Ich glaube, sie wachsen alle auf und denken, sie sind auch Menschen. Bist du eben erst angekommen, Mixtli? Möchtest du gern essen? Oder dich ausruhen?«
Ich sagte, ja, ja. »Ich weiß wirklich nicht, was ich hier tun soll. Oder wohin ich gehen soll.«
»Die Erste Dame meines Vaters weiß bestimmt Rat. Komm, ich bringe dich zu ihr.«
»Ich danke dir, Huéxotzin«, sagte ich, redete ihn also mit Herr Weide an, denn offensichtlich hatte ich richtig geraten: Er war ein Sohn von Nezahualpíli und damit ein Prinz.
Als wir durch das ausgedehnte Palastgelände gingen und die Hirsche zwischen und neben uns einhersprangen, erklärte der junge Prinz mir die vielen Gebäude, an denen wir vorüberkamen. Ein riesiges, zweistöckiges Gebäude umfaßte drei Seiten eines Innenhofes, welcher reizvoll als Garten angelegt war. Der linke Flügel, erzählte Weide mir, enthalte seine Gemächer sowie die all der anderen Königskinder, wohingegen im rechten die vierzig Konkubinen Nezahualpílis untergebracht waren. Der Mitteltrakt enthalte Wohnungen für die Berater des Verehrten Sprechers und die Weisen Männer, die stets zu seinem Hofstaat gehörten, ob er nun in der Stadt weilte oder im Palast draußen auf dem Lande: auch wohnten hier andere Tlamatintin: Philosophen, Dichter, Männer der Wissenschaft, deren Arbeit der Sprecher fördere. Auf dem Gelände ringsumher standen überall kleine Pavillons mit Marmorsäulen davor, in welche ein Tlamatini sich zurückziehen konnte, wenn er in Ruhe schreiben, etwas ersinnen oder vorhersagen oder nur meditieren wollte.
Der eigentliche Palast war gewaltig groß und so wunderschön verziert wie nur irgendeiner in Tenochtítlan. Zwei Stockwerke hoch und mindestens tausend Männerfüße an der Vorderfront messend, enthielt er den Thronsaal, die Ratskammer, Säle für höfische Feste, Unterkünfte für die Wachen und den Gerichtssaal, in welchem der Uey-Tlatoáni regelmäßig mit jenen zusammentraf, die Schwierigkeiten oder Klagen vorzubringen hatten. Außerdem befanden sich in ihm die Gemächer Nezahualpílis persönlich sowie die seiner sieben angetrauten Ehefrauen.
»Alles in allem dreihundert Räume«,
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