Der Azteke
in den Künsten und Wissenschaften unterwiesen, die nur sie, die Aztéca kannten.«
Jemand in der Klasse murmelte, und ein weiterer gluckste unterdrückt.
»Als die Aztéca schließlich in dieses Tal gelangten, wurden sie vom Volk der Tecpanéca am Westufer des Sees freundlich empfangen, und es wurde ihnen Chapultépec als Stätte zum Ausruhen zugewiesen. Auf diesem Grashüpfer-Berg lebten die Aztéca, während ihre Priester auf der Suche nach dem Adler auf dem Nopáli-Kaktus weiterhin das Tal durchstreiften. Nun heißt der Nopáli-Kaktus im Tecpanéca-Dialekt unserer Sprache Tenóchtli, so daß die Tecpanéca die Aztéca Tenóchca nannten und die Aztéca zuletzt selbst den Namen Kaktus-Menschen annahmen. Dann – wie Huitzilopóchtli es versprochen hatte – stießen die Priester tatsächlich auf das Zeichen – auf einen Adler, der auf einem Kaktus hockte – und selbiger Kaktus wuchs auf einer bislang unbewohnten Insel im See. Augenblicklich und voller Freude zogen alle Tenóchca-Aztéca von Chapultépec auf diese Insel.«
Jetzt lachte jemand in der Klasse ganz unverhohlen.
»Auf der Insel bauten sie zwei große Städte. Die eine nannten sie Tenochtitlan, Ort der Kaktus-Menschen, und die andere Tlaltelólco, den Felsigen Ort. Während sie diese Städte bauten, bemerkten die Tenóchca, daß sie jede Nacht von ihrer Insel aus sehen konnten, wie der Mond Metztli sich in den Wassern des Sees spiegelte. Deshalb nannten sie ihre neue Wohnstatt auch Metztli-Xictli, In der Mitte des Mondes, was sie milder Zeit zu Mexitli und noch später zu Mexíco verkürzten, während sie selbst sich schließlich zuletzt Mexíca nannten. Zu ihrem Wappenzeichen erkoren sie das Symbol des auf dem Kaktus hockenden Adlers, und dieser Adler hält in seinem Schnabel ein bandgleiches Symbol, das Krieg bedeutet.«
Inzwischen lachte eine ganze Reihe meiner neuen Klassenkameraden, was mich freilich nicht davon abhielt, unbeirrt fortzufahren.
»Dann begannen die Mexíca, ihren Herrschafts- und Einflußbereich weiter auszudehnen. Viele Völker haben ihr Gutes davon gehabt, entweder dadurch, daß sie sich voll und ganz den Mexíca anschlossen, sich mit ihnen verbündeten oder in Handelsbeziehungen zu ihnen traten. Sie lernten, unsere Götter oder Abwandlungen von ihnen zu verehren, und sie ließen zu, daß wir ihre Götter übernahmen. Sie lernten, nach unserem Rechensystem zu zählen und die Zeit nach unseren Kalendern zu bestimmen. Sie zahlen uns in Form von Waren oder Geld Tribut, weil sie unsere unbezwinglichen Heere fürchten. Sie sprechen aus Hochachtung vor unserer Überlegenheit unsere Sprache. Die Mexíca haben die mächtigste in dieser Welt bekannte Zivilisation aufgebaut, und genau in seiner Mitte steht Mexíco-Tenochtítlan – In Cem-Anáhuac Yoyótli, Das Herz Der Einen Welt.«
Ich küßte die Erde vor dem betagten Meister Neltitica und nahm wieder Platz. Meine Klassenkameraden schwenkten alle die Hände, um die Erlaubnis zum Sprechen zu bekommen, und vollführten dabei einen Lärm, der von Lachen bis zu höhnischem Gebuhe ging. Gebieterisch machte der Meister eine Handbewegung, und die Gruppe saß still und schweigend da.
»Vielen Dank, Kopf Neiger«, sagte er höflich. »Ich hatte mich schon gefragt, welche Version die Lehrer der Mexíca ihren Schülern heutzutage eintrichtern. Von Geschichte weißt du so gut wie nichts, und das wenige, was du weißt, stimmt fast in keiner Einzelheit.«
Ich stand nochmals auf, und mein Gesicht brannte mir, als hätte man mich geohrfeigt. »Meister, Ihr habt mich um einen knappen Überblick gebeten. Ich kann auch mehr in die Einzelheiten gehen.«
»Sei so gut und erspare uns das«, sagte er. »Und um dir das zu vergelten, will ich nur eine einzige Einzelheit zurechtrücken, die du uns bereits dargelegt hast. Die Wörter Mexíca und Mexíco leiten sich nicht von Metztli, dem Mond her.« Er gab mir durch eine Handbewegung zu verstehen, ich solle wieder Platz nehmen, und wandte sich dann der Klasse zu.
»Meine jungen Damen und Herren Studenten, ihr habt nunmehr vor Augen geführt bekommen, was ich euch schon oft zuvor gesagt habe. Bewahrt euch Mißtrauen den vielen verschiedenen Versionen von der Geschichte der Welt gegenüber, die ihr wahrscheinlich noch zu hören bekommen werdet, denn manche davon strotzen ebenso von Hirngespinsten wie von Eitelkeit. Ja, mehr noch: ich habe überhaupt noch nie irgendeinen echten Gelehrten kennengelernt, der es verstanden hätte, sein Werk auch nur mit einem
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