Der Azteke
Borkenpapierstreifen, auf den ich sehr stolz war, hatte ich ihn doch sehr sorgfältig vollgezeichnet und die Zeichnungen mit den leuchtenden Farben ausgemalt, die Chimáli mir geschenkt hatte. Der Meister nahm das gefaltete und gebündelte Buch und begann langsam, die Seiten auseinanderzufalten.
Es handelte sich um den Bericht über ein berühmtes Ereignis in der Geschichte der Mexíca, als sie zuerst in dieses Tal gekommen und die Culhua das mächtigste Volk hier gewesen waren. Der Anführer der Culhua, Coxcox, hatte dem Volk der Xochimilco den Krieg erklärt und die neu angekommenen Mexíca aufgefordert, als seine Verbündeten mitzukämpfen. Als der Krieg vorüber war und die Culhua-Krieger ihre Xochimúca-Gefangenen heimbrachten, brachten die Mexíca überhaupt keine mit, woraufhin Coxcox sie schmähte und als Feiglinge bezeichnete. Daraufhin machten die Mexíca-Krieger die Säcke auf, die sie trugen, und schütteten einen ganzen Berg Ohren auf – alles linke Ohren –, welche sie der riesigen Menge von Xochimilca abgenommen, die sie überwältigt hatten. Coxcox war baß erstaunt und froh zugleich, und von Stund an galten die Mexíca als Kämpfer, mit denen man rechnen mußte.
Ich bildete mir ein, dieses Ereignis sehr gut dargestellt zu haben, insbesondere dadurch, daß ich fein säuberlich all die vielen linken Ohren gezeichnet und die Überraschung auf dem Gesicht des Coxcox wiedergegeben hatte. Infolgedessen glühte ich jetzt innerlich vor Selbstzufriedenheit und wartete darauf, daß der Meister mein Werk hoch loben würde.
Der jedoch runzelte die Stirn, als er die Seiten auseinandernahm und den Blick von einem Ende des auseinandergefalteten langen Streifens bis zum anderen wandern ließ, und sagte schließlich: »Von wo nach wo soll ich das lesen?«
Völlig verwirrt, sagte ich: »In Xaltócan, Meister, falten wir die Seiten von links nach rechts auseinander – damit jeder Abschnitt von links nach rechts gelesen werden kann.«
»Ja, ja«, fuhr er mich an. »Wir sind es schließlich alle gewöhnt, von links nach rechts zu lesen. Doch in deinem Buch findet sich kein Hinweis, daß wir das tun sollten.«
»Hinweis?« fragte ich.
»Einmal angenommen, du wirst aufgefordert, eine Inschrift zu verfassen, die in einer anderen Richtung gelesen werden soll – auf einem Tempelfries oder einer Säule zum Beispiel, wo die Architektur es erfordert, daß von rechts nach links gelesen wird, oder gar von oben nach unten.«
Diese Möglichkeit war mir noch nie in den Sinn gekommen, und das sagte ich ihm.
Woraufhin er ungeduldig meinte: »Wenn ein Schreiber zwei Menschen oder zwei Götter wiedergibt, die miteinander sprechen, müssen sie sich selbstverständlich die Gesichter zuwenden. Doch eine Grundregel gilt es stets zu beachten. Die Mehrheit der Zeichen muß in die Richtung weisen, in welcher das Geschriebene gelesen werden soll.«
Ich glaube, ich habe vernehmlich geschluckt.
»Diese einfachste Regel des Bilderschreibens hast du nie begriffen?« sagte er schneidend. »Und hast die Stirn, mir das hier zu zeigen?« Ohne es auch nur wieder zusammenzufalten, schob er es mir wieder hin. »Wenn du morgen zum erstenmal am Wortkunde-Unterricht teilnehmen wirst, geh zu der Gruppe dort drüben.«
Er wies über den Rasen hinweg auf eine Gruppe, die sich um einen der Pavillons herum versammelte. Ich machte ein langes Gesicht, und aller Stolz verflog. Selbst aus dieser Entfernung konnte ich erkennen, daß alle Schüler dort höchstens halb so groß waren wie ich.
Die Dame von Tolan hatte nicht übertrieben, als sie mir sagte, an dieser Schule würde ich hart arbeiten müssen, aber ich will euch, ehrwürdige Patres, weder mit Berichten über meine tägliche Arbeit und die weltlicheren Ereignisse meines jungen Lebens, noch mit der Aufzählung von den vielen Schock Arbeiten langweilen, die ich am Ende eines jeden Tages heimtrug in meine Wohnräume. Ich werde euch nur sagen, daß ich Rechnen und Kontenführung lernte, die Umrechnung der verschiedenen in Umlauf befindlichen Zahlungsmittel – alles Fertigkeiten, die mir in späteren Jahren sehr zupaß kommen sollten. Ich lernte ungefähr die Geographie dieses Landes kennen, wenngleich damals nicht viel bekannt war über jene Länder, die hinter denen unserer unmittelbaren Nachbarn lagen, wie ich später selbst herausfinden sollte, als ich diesen Fragen nachging. Am meisten Spaß machte mir der Unterricht in der Wortkunde, und davon hatte ich auch am meisten, das heißt, ich
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