Der Azteke
arbeiten die Meister und ihre Schüler mit Vorliebe draußen im Freien.«
Ich sah Gruppen auf dem Rasen beisammensitzen, während andere wiederum sich um marmorne Pavillons scharten. Als Lehrmeister einer jeden solchen Gruppe erwies sich ein älterer Mann, der gleich daran zu erkennen war, daß er einen gelben Umhang trug, während seine Schüler einen bunten Haufen bildeten: Knaben und Männer der unterschiedlichsten Größe und aller Altersstufen, auch einmal ein Mädchen oder eine Frau oder ein Sklave, der ein wenig abseits von den anderen saß.
»Die Schüler werden nicht altersmäßig in Lerngruppen eingeteilt?« erkundigte ich mich.
»Nein, Herr, sondern nach ihren Fähigkeiten. Manche sind in einem Fach wesentlich weiter fortgeschritten als in einem anderen. Wenn Ihr das erstemal teilnehmt, wird der Lehrmeister Euch einer eingehenden Befragung unterziehen, um zu entscheiden, in welche Klasse Ihr wohl am besten hineinpaßt – jene der Anfänger zum Beispiel, der Lernenden, der bereits Fortgeschrittenen und so weiter. Er wird Euch je nach dem Wissen einteilen, das Ihr bereits besitzt, und außerdem danach, wie er Eure Lernfähigkeit einschätzt.«
»Und die Frauen? Und Sklaven?«
»Die Töchter der Adligen haben alle das Recht, sämtliche Klassen bis zu den höchsten Graden durchzumachen, sofern sie die Fähigkeit und den Wunsch dazu haben. Sklaven ist es gestattet zu studieren, soweit es sich mit ihren jeweiligen Aufgaben vereinbaren läßt.«
»Du selbst sprichst für einen so jungen Tlacótli ein sehr gewähltes Nahuatl.«
»Vielen Dank, Herr. Ich bin so weit gekommen, gutes Nahuatl, Betragen und die Grundzüge der Haushaltsführung zu lernen. Wenn ich älter bin, bewerbe ich mich vielleicht um weitere Ausbildung, weil ich hoffe, eines Tages Schlüsselmeister in einem vornehmen Haus zu werden.«
Würdevoll, überschwenglich und großmütig zugleich sagte ich: »Falls ich jemals ein vornehmes Haus habe, so verspreche ich dir diese Stellung, Cozcatl.«
Ich meinte nicht »falls«, sondern »sobald«. Ich erging mich nicht mehr in müßigen Träumereien von künftiger Größe, sondern sah sie bereits greifbar nahe vor mir. Da stand ich in diesem herrlichen Park, meinen Diener zur Seite, stand stolz aufgereckt in meinen prachtvollen neuen Kleidern da und lächelte, als ich daran dachte, was für ein großer Mann ich einmal sein würde. Und jetzt sitze ich hier unter euch, ehrwürdige Patres, gebeugt und verhutzelt in meinen Lumpen und lächle, wenn ich darüber nachdenke, was für ein aufgeblasener junger Laffe ich damals war.
Der Lehrmeister für Geschichte, Neltitica, der so alt aussah, als ob er die ganze Menschheitsgeschichte erfahren hätte, verkündete seiner Klasse: »Heute haben wir einen neuen Piltontli-Studenten bei uns, einen Mexícatl namens Kopf Neiger.«
Daß er mich als einen »jungen adligen« Studenten einführte, schmeichelte mir so sehr, daß mir der Spitzname gar nichts ausmachte.
»Vielleicht, Kopf Neiger, hast du die Güte, uns einen kurzen Überblick über die Geschichte deines Volkes, der Mexíca, zu geben …«
»Jawohl, Meister«, sagte ich voller Zuversicht. Ich erhob mich, und aller Augen wandten sich mir zu. Ich räusperte mich und berichtete, was man mir im Xaltócaner Haus des Manierenlernens beigebracht hatte.
»Wisset also, daß mein Volk ursprünglich weit im Norden dieses Landes lebte, in Aztlan, Dem Ort Der Schneeweißen Reiher. Daher nannten sie sich damals Aztlantláca oder Aztéca – Reiher-Volk. Aber Aztlan war ein hartes Land, und ihre oberste Gottheit, Huitzilopóchtli, berichtete ihnen von einem lieblicheren Land im Süden. Er sagte, bis dorthin werde es eine lange und mühselige Reise sein, doch würden sie ihre neue Heimat daran erkennen, daß dort ein Goldener Adler auf einem Nopáli-Kaktus sitzen werde. Deshalb verließen alle Aztéca ihre schönen Häuser, Paläste, Pyramiden, Tempel und Gärten und brachen nach Süden auf.«
Irgendjemand in der Klasse kicherte.
»Die Wanderung dauerte Schock um Schock Jahre, und sie mußten durch die Länder vieler anderer Völker hindurchziehen. Manche von diesen waren ihnen feindlich gesonnen, kämpften gegen sie und versuchten, die Aztéca zurückzudrängen. Andere jedoch waren gastfreundlich und gestatteten, daß die Aztéca sich bei ihnen ausruhten, manchmal für eine kurze Weile, manchmal jedoch auch viele Jahre hindurch. Das vergalten die Aztéca ihnen damit, daß sie ihnen ihre edle Sprache brachten und sie
Weitere Kostenlose Bücher