Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Jahre alt, kam aus dem »Sozialistischen Patientenkollektiv« und hieß Carmen Roll.
Am Nachmittag dieses Tages besetzte der Chef der »Sonderkommission Baader/Meinhof«, Hauptkommissar Hans Eckhardt, zusammen mit zwei Kollegen ein Appartement im Hamburger Stadtteil Harvestehude, in dem eine Fälscherwerkstatt der RAF entdeckt worden war. Im Treppenhaus wurde ein vierter Beamter postiert, auf der Straße vor dem Haus ein fünfter.
Nach Einbruch der Dunkelheit fuhren Manfred Grashof und Wolfgang Grundmann, der kurz zuvor zur RAF gestoßen war, zu der Wohnung. Kaum hatten sie die Tür geöffnet, wurde geschossen.
Grundmann hob die Hände und rief: »Nicht schießen, ich bin nicht bewaffnet!« Grashof schoß.
Der Kommissar brach, von zwei Schüssen in den Leib getroffen, zusammen. Seine Kollegen trafen Grashof im Kopf und in der Brust. Im Universitätskrankenhaus Eppendorf versuchten die Ärzte, das Leben des Polizeibeamten und des RAF -Mitglieds zu retten. Der Beamte starb zwei Wochen später. Grashof überlebte.
In der Intensivstation wurde er unter der OP -Lampe erkennungsdienstlich behandelt.
Wenige Tage später wurde der Schwerverletzte in einer Blitzaktion vom Staatsschutz aus dem Krankenhaus in eine Gefängniszelle verfrachtet, eine normale Haftzelle, unhygienisch, mit offenem Klo in der Ecke, durch das Fenster wehte Sand herein. Außen an der Tür hing ein Pappschild: Bestand des Zentralkrankenhauses. Tag und Nacht brannte – angeblich zu seiner eigenen Sicherheit – das Licht in der Zelle.
Es folgten zwei Monate, in denen er sich weder außerhalb der Zelle bewegen noch mit jemandem sprechen konnte. Dann wurde er aus der Krankenabteilung fünf Zellen weiter in die Sicherheitsabteilung verlegt, die links und rechts von Doppelgittern begrenzt war. Die Zellen unter und über ihm waren leer. Er konnte wieder aufstehen. Jeden Tag eine halbe Stunde Hofgang – mit auf dem Rücken gefesselten Armen. Seine Wunden platzten wieder auf.
42. Wer zuerst schießt, überlebt
Die Schüsse von Augsburg und Hamburg zeigten, daß inzwischen auf beiden Seiten die Finger schnell am Abzug waren. Nach 22 Monaten Flucht und Fahndung waren auf beiden Seiten Angst, Hysterie und Verfolgungswahn entstanden. Der Berliner Psychologe Helmut Kentler sagte dazu: »Die Flüchtigen haben heute die Mentalität von Vogelfreien. Ihre Handlungen sind längst nicht mehr politisch zu rechtfertigen. Ihr Denken und Tun wird nur noch vom Willen des Überlebens bestimmt. Sie schießen, um noch einmal davonzukommen.«
Auch viele Polizeibeamte schossen jetzt, um noch einmal davonzukommen. Ein Beamter aus der Sonderkommission des ermordeten Kriminalhauptkommissars Hans Eckhardt sagte: »Jetzt ist es soweit. Wer zuerst schießt, überlebt. Es ist wohl besser, im Zweifelsfall lieber ein Disziplinarverfahren an den Hals als eine Kugel in den Bauch zu bekommen.«
So dachten viele, und sie handelten auch so. Am 1 . März 1971 nahm der siebzehnjährige Lehrling Richard Epple einer Tübinger Verkehrsstreife die Vorfahrt. Er hatte keinen Führerschein, und das linke Rücklicht seines alten Ford 12 M war defekt. Die Polizisten nahmen die Verfolgung auf. Im Abstand von wenigen Metern rasten sie über die Straßen. Die Beamten forderten Verstärkung an. Über Funk hörten sie von einem ihrer Kollegen: »Dann aber Feuer frei.« Der Lehrling raste an einer Straßensperre vorbei, und einer der dort postierten Beamten eröffnete das Feuer. Er schoß neunmal mit seiner Dienstpistole in die Luft und griff dann zur Maschinenpistole. Aus dem Seitenfenster und bei siebzig Stundenkilometern Geschwindigkeit gab er Dauerfeuer auf den flüchtenden Fordfahrer ab. Zehn Kugeln schlugen in eine Hauswand, sieben zertrümmerten die Heckscheibe des Fluchtwagens und trafen den Lehrling am Steuer. Richard Epple war sofort tot.
Die Verwechslungen Unbeteiligter mit gesuchten Terroristen nahmen zu. Auf der Autobahn Hamburg–Bremen überholte ein schwarzer Mercedes einen hellen Glas 1700 TS mit niederländischem Kennzeichen und brachte ihn zum Halten. Zwei Männer in Rollkragenpullovern, in der Hand Pistolen, sprangen heraus. Der Fahrer des gestoppten Fahrzeugs dachte: »Das sind Räuber. Wir werden überfallen.«
Er gab Gas und raste davon. Einer der Rollkragenmänner hatte noch beobachtet, wie die Beifahrerin in die Handtasche griff, außerdem glaubte er, Mündungsfeuer zu sehen. Er warf sich auf den Boden und feuerte dreimal.
Das Paar meldete sich bei der
Weitere Kostenlose Bücher