Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Gruppe, später nach dem Verhaftungstermin » 4 . 2 .« genannt, hatte über Wochen und Monate Pläne geschmiedet und war dabei vom Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz rund um die Uhr abgehört und observiert worden.
Das sollte sich nicht wiederholen. Die neue RAF -Generation wollte »weniger planen und mehr handeln«. Als erstes wurde eine Liste möglicher Aktionsziele zusammengestellt. Ganz oben, schon wegen der Reihenfolge im Alphabet, stand darauf das Wort »Botschaft«: London, Amsterdam, Wien, Stockholm und Bern. Volker Speitel fuhr in die Schweiz und stellte fest, daß die Deutsche Botschaft in Bern »militärisch« kaum anzugreifen war; sie war zu gut gesichert.
In der Zwischenzeit begann die Gruppe, illegale Wohnungen anzumieten und neue Mitglieder zu werben, vor allem im Kreis der »Folterkomitees«.
Speitel, so sagte er jedenfalls später, ging das illegale Getue auf die Nerven. Er befürchtete, die Gruppe könnte sich in ihrem Verfolgungswahn in unüberlegte Abenteuer stürzen: »Einer brachte es mal auf die Formel, daß seine Angst vor dem Handeln jeden Tag größer werde, deshalb möchte er jetzt handeln, um nicht länger Angst zu haben.«
Speitel tauchte wieder aus dem Untergrund auf und ging zurück zum Stuttgarter Anwaltsbüro Croissant.
24. Ein Politiker wird entführt
Im Frühjahr 1975 sollte in Berlin gewählt werden. Zum ersten Mal nach insgesamt 27 Jahren Regierung oder Regierungsbeteiligung mußten die Sozialdemokraten damit rechnen, nicht wieder als stärkste Fraktion ins Abgeordnetenhaus zurückzukehren. Das lag allerdings mehr an den Verschleißerscheinungen der SPD als an ihren christdemokratischen Gegnern und deren Spitzenkandidat Peter Lorenz, 52 Jahre, Rechtsanwalt. Was dem Bürgermeisterkandidaten der CDU vor allem fehlte, war Popularität. Doch das sollte sich bald ändern.
Lorenz hatte seinen Wahlkampf unter das Motto »Mehr Tatkraft schafft mehr Sicherheit« gestellt. Über eine CDU -Anzeige, die über Lorenz’ Porträt die Schlagzeile »Berliner leben gefährlich« trug, höhnte Bundeskanzler Helmut Schmidt: »Der Peter Lorenz, der das verantwortet, diesen Unfug, der muß sich offenbar nachts in seiner Wohnung ängstigen.«
71 Stunden vor der Wahl, am 27 . Februar 1975 um 8 . 52 Uhr, verließ Peter Lorenz seine Wohnung in Zehlendorf. Drei Minuten später wurde sein Mercedes, 1500 Meter von seiner Villa entfernt, von einem Viertonnerlastwagen blockiert und von einem Fiat gerammt. Lorenz’ Fahrer wurde mit einem Besenstiel niedergeschlagen und der CDU -Spitzenkandidat selbst in ein bereitstehendes Fahrzeug gezerrt.
Das erste Lebenszeichen des Entführten kam 24 Stunden später. Ein Polaroidfoto zeigte den Politiker mit einem Pappschild um den Hals: »Peter Lorenz, Gefangener der Bewegung › 2 . Juni‹«. Die Entführer verlangten die Freilassung von sechs Inhaftierten: Horst Mahler, Verena Becker, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Ingrid Siepmann, Rolf Heißler, Rolf Pohle. Alle, bis auf Horst Mahler, waren dem weiteren Umfeld des » 2 . Juni« zuzurechnen. Von den Spitzen der RAF kein Wort, nur eine kleine Entschuldigungszeile: »An die Genossen im Knast: Wir würden gern mehr Genossen von Euch herausholen, sind aber dazu bei unserer jetzigen Stärke nicht in der Lage.«
Die Fahnder staunten. »Hier haben eiskalte Profis gearbeitet«, meinte der Berliner Oberstaatsanwalt Nagel.
Die Forderungen waren gerade so, daß der Staat sie noch erfüllen konnte. Es war niemand dabei, der wegen Mordes angeklagt oder verurteilt war.
In Bonn bildete sich zum ersten Mal der »Große Krisenstab« mit Beteiligung aller politischen Führungspersonen. Ohne Verfassungsauftrag, ohne eigentliche Entscheidungsbefugnis.
Die Politiker waren für Nachgeben. Bundeskanzler Helmut Schmidt dreißig Jahre später: »Für sie war das selbstverständlich, daß man auf den Austausch der Inhaftierten gegen die Geisel Lorenz eingehen sollte. Und ich hab mich dem angeschlossen, aber ich habe am nächsten Morgen gewußt: Das war ein Fehler, was wir gemacht hatten, weil es einlud, das Manöver zu wiederholen.«
Die Entführer hatten verlangt, daß der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Heinrich Albertz, die freigepreßten Gefangenen auf ihrem Flug begleiten sollte. »Eine späte Antwort auf den Tod von Benno Ohnesorg? Holt dieses Datum mich wieder ein?« dachte Albertz, als ihm ein Beamter der Berliner Senatskanzlei am Telefon die Forderung der Entführer vom » 2
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