Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
die zum Zeichen, daß sie keine Waffen trugen, nur mit Unterhosen bekleidet waren, schleppten den Sterbenden die Treppe hinunter. Die Polizisten zogen sich zurück und richteten ihre Einsatzzentrale in der Botschafterwohnung im Nebenhaus ein. Sie sicherten das Gebäude mit Sandsäcken ab und teilten kugelsichere Westen aus.
Um 15 . 30 Uhr riefen die Besetzer erneut bei dpa in Stockholm an und übermittelten ihre Forderung, 26 Gefangene aus der Bundesrepublik freizulassen, unter ihnen: Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Jan-Carl Raspe, Gudrun Ensslin.
Als Bundeskanzler Helmut Schmidt die Nachricht von der Botschaftsbesetzung erhielt, zog er sich für eine halbe Stunde in sein Arbeitszimmer im Bonner Palais Schaumburg zurück. Dann teilte er den zusammengetretenen Mitgliedern des Großen Krisenstabs seine Entscheidung mit: »Meine Herren, mein ganzer Instinkt sagt mir, daß wir hier nicht nachgeben dürfen.«
Gegen 20 . 00 Uhr wurde der schwedische Justizminister von der ablehnenden Haltung der Bundesregierung unterrichtet. Nach kurzem Zögern sagte er: »Wir akzeptieren diese Entscheidung.« Der Minister rief in der Botschaft an und sagte den Terroristen, daß Bonn ihre Forderungen kompromißlos zurückgewiesen habe. Für einen Moment schien die Leitung tot zu sein. Der Mann am anderen Ende schien das alles nicht fassen zu können.
Neunmal sprach der schwedische Justizminister in dieser Nacht mit den Besetzern, versuchte ihnen freien Abzug anzubieten, wenn sie ihre Geiseln freiließen. Sie lehnten ab: »Zwecklos, wir verhandeln nicht. Wenn unsere Forderungen nicht erfüllt werden, erschießen wir alle Stunde eine Geisel. Sieg oder Tod!«
Um 22 . 20 Uhr fragte einer der Terroristen nach dem Wirtschaftsattaché. »Hier bin ich«, rief Dr. Hillegaart. Er wurde nach draußen vor ein geöffnetes Fenster geführt. »Hallo, hallo – hört ihr mich?« rief er. Dann fielen drei Schüsse. Der 64 jährige Wirtschaftsattaché sank langsam vornüber und blieb, halb aus dem Fenster hängend, liegen. Er war tot.
Die schwedische Polizei brachte einen Wagen mit dem Betäubungsgas »K 62 « in Stellung, das zum ersten Mal bei der Überwältigung zweier Bankräuber 1973 in Stockholm eingesetzt worden war. Aus hundert Metern Entfernung sollten die beim Aufprall zerplatzenden Gaspatronen in das Gebäude geschossen werden. Es kam nicht mehr dazu.
Dreizehn Minuten vor Mitternacht erschütterte eine Kette von Detonationen das Botschaftsgebäude.
Die Fensterscheiben im dritten Stock flogen samt Rahmen auf die Straße. Dachrinnen wurden in die Bäume geschleudert, ein Bürostuhl landete fast hundert Meter entfernt auf dem Rasen. Draußen wurden Polizisten durch den Explosionsdruck zu Boden gerissen. Im selben Moment raste eine Feuerwelle durch den dritten Stock der Botschaft, die Flammen schlugen über das Dach. »Hilfe«, hallte es aus dem Feuer. Dann taumelte der Botschafter Stoecker, dem es gelungen war, seine Fesseln zu lösen, aus dem Inferno. Drei der Terroristen folgten ihm, sie hatten ihre Waffen verloren oder weggeworfen und ließen sich widerstandslos festnehmen. Zwei weitere stürzten verletzt vor dem Haus zu Boden. Der sechste wurde sterbend an der Rückseite der Botschaft im Gras gefunden. Die Druckwelle hatte ihn aus dem Haus geschleudert.
Polizei und Feuerwehr stürmten das brennende Gebäude und befreiten die Geiseln. Fast alle hatten schwere Verbrennungen.
Drei Tote hatte es gegeben: die Botschaftsangehörigen von Mirbach und Hillegaart und einen Terroristen, Ulrich Wessel. Ein Schwerverletzter, Siegfried Hausner, wurde trotz seiner Brandwunden wenige Tage später in einem Sonderflugzeug nach Deutschland gebracht.
»Es war nur ein, zwei Tage nach dem Ende des Stockholmer Überfalls, als einer der Geiselnehmer mit dem Hubschrauber zu uns gebracht wurde«, erzählte später der Vollzugsbeamte Horst Bubeck. »Sein Name war Siegfried Hausner, ein junger Mann von Anfang zwanzig mit schweren Brandwunden.« Er kam in Stammheim auf das Krankenrevier, in dem das Justizministerium für die hungerstreikenden Gefangenen eine komplette Intensivabteilung eingerichtet hatte. Für schwere Brandverletzungen war das Gefängnislazarett weder personell noch technisch ausgerüstet. Siegfried Hausner hatte, so Bubeck, »keine Überlebenschance, was die Ärzte sogleich festgestellt haben«.
Am 1 . Mai, bei Dienstantritt morgens um sieben, sah Bubeck den Sterbenden ein einziges Mal. Hausner war unfähig zu sprechen, aber
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