Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
deren Kenntnis der Bundesregierung die Haare zu Berge stehen würden. Aber ich bin der Überzeugung, daß noch eine Einflußmöglichkeit, zumindest auf die Gruppen in der Bundesrepublik, besteht.
Man kann noch versuchen, eine Entwicklung zum Terrorismus hier zu verhindern, obwohl es Strömungen anderer Art gibt. Das ist letztlich der Grund für den Gesprächswunsch gewesen. Der Terrorismus ist nicht die Politik der RAF . Die Freilassung der zehn Gefangenen jedenfalls bedeutet keine Eskalation der Formen bewaffneter Gewalt. Insofern wird das Volk belogen.«
»Warum reden Sie von zehn und nicht von elf freizulassenden Gefangenen?« erkundigte sich der BKA -Beamte.
»Günter Sonnenberg ist durch seine Hirnverletzung kretinisiert, darum rechne ich ihn nicht mehr dazu.« Sonnenberg hatte bei seiner Festnahme einen Kopfschuß erlitten.
Baader kam auf die ursprüngliche Motivation der Gruppe zu sprechen. Anlaß sei vor allem der Vietnamkrieg gewesen. Das sehe er auch heute noch rückblickend als zwingenden Grund für die RAF -Aktionen an. Allerdings habe die Gruppe auch Fehler gemacht. Er warf die Frage auf, wem die in seinen Augen vom Staat verschuldete Eskalation des Terrors und der Brutalität nütze, vielleicht werde sie von manchen sogar gewünscht. Sie werde jedenfalls eine breite illegale Bewegung hervorrufen. Zum Schluß sagte Baader: »Zwischen dem Staat und den Gefangenen gibt es zur Zeit einen minimalen Berührungspunkt des Interesses. Gudrun hat dazu schon alles gesagt. Freigelassene Häftlinge sind im Verhältnis zu toten Gefangenen auch für die Bundesregierung das kleinere Übel.« Sterben müßten die Gefangenen so oder so.
Das Gespräch dauerte über eine Stunde. Nachdem Andreas Baader wieder in seine Zelle zurückgebracht worden war, telefonierte der Ministerialdirigent mit dem Bundeskanzleramt.
Am Nachmittag wurde der evangelische Anstaltspfarrer auf einem Konvent in Leonberg von seinem katholischen Kollegen Dr. Rieder angerufen. Gudrun Ensslin wünsche ein Gespräch mit den beiden Geistlichen.
Gegen 15 . 40 Uhr brachte ein Beamter die Pfarrer in das Besuchszimmer im siebten Stock. Kurz darauf wurde Gudrun Ensslin hereingeführt.
Sie nahmen an einem Tisch Platz.
»Ich habe ein Anliegen, das ich Ihnen mitteilen möchte«, sagte die Gefangene. »Ich gehe davon aus, daß Sie mir dabei helfen können. Auf meiner Zelle in einer Mappe mit der Aufschrift ›Anwalt‹ befinden sich drei lose eingelegte beschriebene Blätter, die dem Chef des Bundeskanzleramtes zugestellt werden sollen, wenn ich vernichtet oder hingerichtet sein werde. Sorgen Sie bitte dafür, daß diese Schriftstücke dorthin gelangen. Ich habe die Befürchtung, daß sonst die Bundesanwaltschaft die Schriftstücke unterschlägt oder gar vernichtet.«
Der evangelische Geistliche fragte: »Aber Frau Ensslin, sind Sie denn wirklich der Meinung, daß jemand Sie vernichten oder hinrichten will?«
»Nicht irgendwie von hier aus dem Haus. Die Aktion kommt von außerhalb. Wenn wir hier nicht rauskommen, dann geschehen schreckliche Dinge.«
Rieder warf ein: »Meinen Sie damit, dann ist der Teufel los?«
»Ja, das kann man so sagen.«
Gudrun Ensslin war ganz ruhig, sie sprach ohne Erregung und Nervosität.
»Wen wollen Sie eigentlich befreien?« erkundigte sich der katholische Pfarrer.
Daraufhin erzählte Gudrun Ensslin von dem unmenschlichen, fast 30 Jahre geführten Dschungelkrieg in Vietnam, der unsägliches Leid über Millionen Menschen gebracht habe und dessen Nachwirkungen noch nicht abzusehen seien.
In anderen Ländern habe es Befreiungsbewegungen und Revolutionen gegeben. Nur über Gewaltanwendung seien gesellschaftliche Veränderungen, die zur Befreiung von Unterdrückten geführt hätten, durchzusetzen gewesen. So etwas sei in Deutschland, wenn überhaupt, nur mit halbem Herzen gemacht worden. Die bestehenden militärischen und wirtschaftlichen Machtverbindungen zwischen der Bundesrepublik und den USA bewirkten eine starke Abhängigkeit und Unterdrückung der Massen und würden unweigerlich zu einem neuen, schrecklichen Atomkrieg führen. »Das gilt es mit allen Mitteln, notfalls mit Gewalt, zu verhindern und zu ändern.«
Das Gespräch dauerte eine Stunde. Am Schluß bat Gudrun Ensslin die Geistlichen noch einmal, dafür Sorge zu tragen, daß die drei Schriftstücke ihren Adressaten auf jeden Fall erreichten.
»Wer soll denn davon auf alle Fälle unterrichtet werden?« fragte der evangelische Pfarrer.
»Mein Anwalt
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