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Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Titel: Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Aust
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hatte ein Grundproblem angesprochen, das unter Autoren, Journalisten und Filmemachern der späten sechziger Jahre ständig diskutiert wurde. Doch nur wenige – vor allem wenige bekannte – hatten aus der Theorie praktische Konsequenzen gezogen. So wie die meisten Aufforderungen der radikalen Linken theoretisch aufgestellt, aber niemals praktisch befolgt worden waren. So hatten alle Anwesenden auf dem Vietnam-Tribunal im Audimax der Technischen Universität das überdimensionale Plakat beklatscht: »Es ist die Pflicht jedes Revolutionärs, die Revolution zu machen.« Aber nur wenige hatten es auch nur versucht.
    So bekundete auch Fernsehredakteur Waldmann in der Antwort seine Sympathie für Ulrikes Selbstzweifel: »Das geistige Dilemma, in das Du geraten bist, kann ich gut verstehen; ich lebe ständig in dieser Situation des Zweifelns über die Effektivität dessen, was ich tu.« Aber die Reaktionen auf seine Arbeit rissen ihn immer wieder aus dem Schlamassel heraus. Er fände es einigermaßen naiv, wenn Ulrike erst jetzt, nach Abschluß der Dreharbeiten, auf diese Gedanken käme.
    Besonders die Art und Weise, in der Ulrike Meinhof über die Mitglieder des Filmteams geurteilt hatte, empörte den Fernsehmann: »Du beschuldigst unser Team der Teilnahmslosigkeit. Liebe Ulrike, mein Team hat von morgens bis in die Nacht Schwerstarbeit geleistet … So ist das in dem Beruf, dessen Spielregeln das Team nicht bestimmt, leider. Daß unsere Mitarbeiter von der Misere, die sie gesehen haben, nicht betroffen gewesen wären, ist eine Unterstellung, die kränkend ist. Ist es nur Dir vorbehalten, mitzuleiden? Weißt Du eigentlich, daß die von Dir verleumdeten Schauspielerinnen sich mit einigen Mädchen verabredet haben nach dem Dreh? Zum Kaffee, zum Theaterbesuch? Daß unsere Maskenbildnerin einem der Mädchen in ihren Beruf helfen will? Daß wir gestern gerade bei uns beredet haben, daß wir eben diesen Kontakt nicht abbrechen lassen?« Habe sie wirklich erwartet, daß das Team mit den Mädchen eine echte Revolution inszenieren und dabei Job, Familie, alles auf Spiel setzen würde?
    »Du kommst mir vor«, schrieb Dieter Waldmann, »wie diese hochmütigen Intelligenzler, die den Springer-Arbeitern zurufen, sich mit ihnen zu solidarisieren, ohne zu fragen, wer denn dann den Lohn zahlt.« Offenbar würde sie wütend um sich herum alle beschuldigen, weil sie wieder einmal ihre eigene politische Misere vor Augen habe. Für sie, die Autorin, möge »Bambule« ein »Scheißspiel« sein. Für ihn sei es ein Versuch, anstelle von volksverdummenden »Scheißspielen« ein kleines Stückchen Aufklärungsarbeit zu leisten. »Im übrigen hoffe ich auf den Tag, da bei Dir wieder einmal die Kohlen nicht stimmen und Du gnädigst Dein zweites Spiel für uns schreibst.«
    Aber Ulrike Meinhof schrieb bereits an ihrem Spiel. Es sollte eine Tragödie werden.
     
    Die Dreharbeiten zum Fernsehfilm »Bambule« waren Anfang Februar 1970 abgeschlossen. Kurz darauf erhielt Ulrike Meinhof Besuch aus Italien. Vor ihrer Tür in der Kufsteiner Straße standen Andreas Baader, wie immer elegant, diesmal in einem der maßgeschneiderten Seidenhemden, die er dem gutsortierten Kleiderschrank des Komponisten Hans Werner Henze in Rom entnommen hatte, und Gudrun Ensslin, die energische Pfarrerstochter. Sie suchten sich ein Zimmer aus. In Berlin, so glaubten die beiden, könnten sie sich unerkannt bewegen und gleichzeitig politisch aktiv sein. Natürlich konnte die Wohnung der prominenten linken Journalistin ihnen nur vorübergehend als Herberge dienen.
    Ulrike Meinhof war einverstanden. Sie wollte den beiden helfen. Das Leben der Kaufhausbrandstifter schien ihr viel konsequenter als ihr eigenes. Sie hoffte, von ihnen zu lernen. Baader und Ensslin hatten sich auf ihrer Flucht durch Italien in einsamen Stunden manchmal einen »Schuß« verpaßt und versuchten, auch Ulrike Meinhof dafür zu gewinnen. Die Gastgeberin hatte jedoch seit ihrer Gehirnoperation panische Angst davor, mit chemischen Substanzen zu experimentieren. Eines Nachts ließ sie sich überreden, und alle nahmen eine jener gelben Pillen, die unter dem Namen »Sunshine« in der Berliner Drogenszene leicht erhältlich waren: LSD .
    In dieser Nacht wechselte die Stimmung abrupt. Sie war heiter, ironisch, aggressiv, brutal und dann wieder voller geträumter Gemeinsamkeiten. Ulrike konnte sich nur mit äußerster Anstrengung konzentrieren und erlebte Momente großer Angst, in denen sie fürchtete, die

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