Der Bann des Zeitreisenden (German Edition)
sich nicht einmal. Aus ihrer grauen Haut schloss Marisa, dass sie entweder krank waren … oder schon gar nicht mehr atmeten.
Wind kam auf, und sie konnte endlich einmal eine Brise einatmen, die eher frei von Gestank war. Doch das war nur eine winzige Erleichterung. Diese Leute hatten seit Tagen, vielleicht sogar seit Monaten nicht mehr gebadet. Es gab kein frisches Wasser zum Trinken oder Waschen, und anstelle eines Badehauses bemerkte sie lediglich einen Graben.
Marisa hielt sich rechts und bemühte sich, auf niemanden zu treten. »Ich muss nach meinem Freund suchen.«
»Es wäre aber besser für dich, wenn du es nicht tätest«, warnte Colleen sie. »Es ist hart, diejenigen sterben zu sehen, die man liebt. Und jeder hier verhungert entweder, oder er verwandelt sich in einen Drachen und wird zum Sklaven.«
»Ich verstehe.« Marisa zweifelte nicht an der Wahrheit von Colleens Worten. Aber sie musste Rion trotzdem finden. Das bedeutete, dass sie die Panik lieber zurückdrängen sollte, die jedes Mal in ihr aufstieg, wenn sie den Gestank einatmete. Oder aber wenn sie ein Kind jammern hörte. Oder auch, wenn sie die Fliegen sah, die um all die Toten und Sterbenden herumsummten.
Zuerst rief sie Rions Namen, während sie nach ihm suchte. Aber dadurch zog sie zu viel Aufmerksamkeit auf sich. Also hielt sie nach einer Kleidung Ausschau, die noch nicht mit Dreck überzogen war.
Stundenlang.
Meilenweit.
Es war, als hätten die Unari jeden einzelnen Einwohner von Chivalri in dieses Loch geworfen. Die meisten Menschen starrten sie aus leeren, blicklosen Augen an. Es wurde kaum gesprochen. Hier und da erhob sich nur erschöpftes Flüstern. Und schwarze Verzweiflung.
Den Rest des Tages lief sie herum, bis es so dunkel wurde, dass sie nicht mehr gut genug sehen konnte und schon befürchten musste, auf die Leute zu treten. Sie glitt zu Boden und tröstete sich damit, dass sie inzwischen wenigstens trocken war. Aber sie hatte das andere Ende der Grube noch lange nicht erreicht. Und was noch schwerer wog: Sie war bloß in eine Richtung gegangen. Es schien also gut möglich zu sein, dass sie eigentlich die entgegengesetzte Richtung hätte einschlagen müssen.
Es war vollkommen sinnlos, in diesem menschlichen Morast jemanden finden zu wollen. Sie hätte auf Colleen hören sollen. Aber wenn Rion bei Bewusstsein war, dann suchte er auch nach ihr, das wusste sie.
Marisas Lippen waren trocken und gesprungen, sie sehnte sich nach Wasser. Obwohl ihr Magen knurrte, war der Hunger nicht das größte Problem. Bei all dem Gestank und ihrer ekelhaften Umgebung hatte sie jeden Appetit verloren. Dafür sollte sie dankbar sein. Die Unari würden ihr keine Nahrung geben, bis sie sich in eine Drachin verwandelte. Und dann würde sie gezwungen sein, unter schrecklichen Qualen zu arbeiten. Sie begriff, warum es da wesentlich leichter fallen mochte zu verhungern.
»Wann bekommen wir Wasser?«, fragte sie eine Frau, die links neben ihr hockte. Die Frau hatte glasige Augen und drehte sich von ihr weg, als hätte sie Marisa gar nicht gehört.
Ein älterer Mann hinter ihr hustete trocken und schwach. Zu ihren Füßen rollte jemand herum und begann zu schnarchen. Noch nie hatte sich Marisa so einsam gefühlt wie in diesem Meer von Menschen.
Sie hatte kaum eine Vorstellung davon, wo sie sich hier tatsächlich befand. War das ein gigantisches Gefängnis? Oder ein gigantisches Grab?
Sie konnte wochenlang ohne Nahrung auskommen, aber sie würde kaum mehr als ein paar Tage ohne Wasser überleben. Ihre Kehle war bereits so trocken, dass das Schlucken sie schmerzte. Sie versuchte nicht an ihre gerissenen Lippen zu denken und auch nicht daran, wie trocken sich ihre Augäpfel anfühlten. Sie wünschte nur, sie könnte einfach schlafen und müsste nicht an den nächsten Tag denken.
Reiß dich zusammen.
Sie hatte doch noch Kraft. Sie war erst einen Tag lang hier. Rion und die Rebellen mussten schließlich irgendwo sein. Marisa würde sie finden. Sie wusste zwar nicht, wie sie das anstellen sollte, aber morgen würde sie weiter nach ihnen Ausschau halten.
Als die Sonne unterging und die Dunkelheit heraufzog, fand sie endlich eine Stelle, wo sie sich für die Nacht hinlegen konnte. Ein kleines Kind kuschelte sich sogleich an sie. Seit die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, war es kalt geworden, und da schien es sinnvoll, die Körperwärme zu teilen – und sei es mit einem fremden Menschen. Niemand hatte mehr Kraft für etwas anderes als fürs
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