Der Bann des Zeitreisenden (German Edition)
Überleben.
Trotz ihrer Erschöpfung konnte sie nicht schlafen. Der Boden war trocken, aber auch hart und kalt. Sand hatte sich unter ihr Hemd gestohlen und steckte nun in den Haaren und Socken. Er war das perfekte Ärgernis – grobkörnig, winzig und hart. Er klebte an der schweißnassen Haut und scheuerte sie auf.
Morgen musste sie all den Sand aus Schuhen, Kleidung und Haaren schütteln. Bei dem Gedanken, etwas Sinnvolles zu tun, ging es ihr gleich etwas besser. Das Entfernen des Sandes mochte zwar eine kleine Sache sein, aber … Mit dem Gedanken an Sand schlief sie schließlich auch ein.
Marisa öffnete die Augen. Tag zwei. Kein Rion. Keine Nahrung. Auch kein Wasser. Ihre Zunge wirkte im Mund wie geschwollen. Ihre Lippen waren gerissen und vermutlich blutig. Erschöpfung kreiste durch ihr Hirn, schaltete ihre Gefühle ab und auch ihre übliche Neugier sowie alle Energie.
Um sie herum regten sich die Gefangenen. Der alte Mann hustete noch immer; sein heiseres Bellen war schrecklich zu hören. Die Frau, die sich gestern von Marisa abgewandt hatte, bewegte sich noch nicht. Das Kind, das sich an sie gekuschelt hatte, war verschwunden.
Bei der ersten Brise hob sie den Kopf. Sie erspähte einen runden, mattschwarzen Ball, der vom Himmel herabstieg. Halluzinierte sie jetzt schon? Nein, es war tatsächlich ein Schweber.
Die Kugel schien direkt auf sie zu zielen. Um sie herum huschten die Menschen fort, wichen zurück oder rollten zur Seite. Jetzt war nicht die Zeit, tapfer zu sein. Marisa versuchte in der Menge unterzugehen.
Aber das verdammte Ding folgte ihr.
War es Zufall?
Vielleicht. Sie änderte die Richtung, schlug dann wieder einen Haken. Als sie hochschaute, war der Schweber noch immer über ihr. Sie konnte ihm also nicht davonrennen. Und es war ebenso unmöglich, ihn mit den bloßen Händen zu bekämpfen.
Marisa tat also das einzig Gebotene. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, sah die Kugel an und wartete ab. »Was willst du, du übergroße Blechdose?«
»Es will dich«, murmelte jemand in der Menge.
»Aber wozu?«, fragte sie, obwohl sie eigentlich keine Antwort erwartete.
»Die Schweber fressen Menschen.«
Das klang gar nicht gut.
»Sie lieben frisches Fleisch.«
Marisa roch einen Hauch ihres eigenen Gestanks. Frisch war sie jedenfalls nicht mehr.
»Die Neulinge liefern sich immer dem Hunger aus.«
Sie schwankte auf den Beinen, die wie Wackelpudding wirkten. So viel zu Marisas Plan, den Sand auszuschütteln und nach Rion zu suchen.
Wenn sie genug Platz gehabt hätte, wäre sie vielleicht davongelaufen. Aber die Menge umgab sie, als wäre Marisa die einzige Unterhaltung, die sie in diesem Jahr hatte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und ihr Adrenalinpegel stieg an. Vielleicht konnte sie der Maschine eines ihrer sechs Augen austreten.
Der Schweber befand sich nur noch etwa einen Fuß über dem Boden. Sie wollte nicht so lange warten, bis ihm Zähne wuchsen. Also trat sie ihm gegen ein Auge. Und freute sich, es zerspringen zu hören. Die Menge gab keinen Laut von sich. Der Schweber stach sie auch nicht. Er richtete einfach nur ein anderes Auge auf sie.
Ein Auge war weg, also noch fünf übrig. Sie trat erneut aus. Das nächste Auge zersplitterte. Noch vier. Wieder drehte sich die Kugel.
Drei weitere Tritte.
Nur noch eines. »Du bist nicht sehr schlau, was?«, murmelte Marisa und nahm der Kugel das letzte Auge. Der Schweber blieb etwa einen Fuß über der Erde an Ort und Stelle. Jeden Augenblick erwartete sie, dass er einen Lähmstrahl auf sie abschoss.
Stattdessen platzte die Kugel auf. Marisa trat zurück. Der Schweber besaß eine kreisrunde Luke. Verglichen mit der Helligkeit draußen wirkte das Innere verschattet und finster. Sie konnte kaum etwas erkennen.
»Steig ein, Marisa Roarke.«
Diese Blechdose kannte also ihren Namen. Ihren Vor- und Zunamen. Den Letzteren hatte sie aber noch nie zuvor jemandem genannt. Auch nicht in Lex´ Gruppe, wenn sie es sich recht überlegte.
»Steig ein«, wiederholte der Schweber.
Marisa schüttelte den Kopf.
»Steig ein steig ein steig ein steig ein …«
»Auf gar keinen Fall. Bring mich erst zu Rion.«
»Wenn das dein Befehl ist, dann werde ich dich zu Rion bringen.«
Marisa blinzelte. Hörte sie Gespenster? Halluzinierte sie etwa? »Du willst mich zu Rion bringen?«
»Steig ein steig ein steig ein steig ein …«
Es musste eine Falle sein. Aber sie wusste bereits, dass der Schweber nicht besonders klug war. Vielleicht erhielt er
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