Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
Vom Netzwerk:
saß zu seiner Linken auf dem Sofa. Ihre Arme waren auf dem Rücken gefesselt. Ihre Knöchel waren ebenfalls gebunden. Die Seidenbluse war zerrissen. Sie starrte auf den Teppich zu ihren Füßen, die Augen weit aufgerissen und ungläubig. Neben Helene saß ihr Ehemann. Carl trug ein Hemd mit offenem Kragen und dunkle Hosen. Anders als seine Frau hatte er den Blick nicht gesenkt. Seine Augen suchten unablässig den Raum ab, ohne dabei Jakabs Gesicht zu streifen.
    Einzig Hans, seinem Sohn und seiner Schwiegertochter gegenüber an einen Sessel gefesselt, wagte es, Jakab anzusehen. Ein Fetzen seiner Kopfhaut hing ihm über das Ohr. Blut hatte seine Jacke und sein Hemd durchnässt. Er wandte den Blick nicht von Jakab ab. «Was auch immer du mit uns machst», sagte er. «Vergiss nicht: Carl ist Ernas Sohn. Ihr Blut, Jakab. Denk darüber nach. Er ist genauso ein Teil von ihr wie Anna.»
    Jakab schwieg für eine Weile. «Du sagst, ich solle nicht vergessen,
Bauer
. Ich vergesse nichts. Ich habe auch nicht vergessen, dass du mir meine Frau gestohlen hast.»
    Hans starrte Jakab an. Schließlich schüttelte er den Kopf. «Sie war nie deine Frau.»
    Die Wahrheit dieser Worte – die nackte und kalte Realität – verletzte Jakab mehr als irgendetwas anderes in den achtundvierzig Jahren seit Ernas Tod. Von einem Augenblick zum anderen war er zurück in jener Nacht, als sie ihn am Ufer des Plattensees getroffen und vor den Fremden in der Taverne ihres Vaters gewarnt hatte. Er erinnerte sich, wie seine Freude über ihre Nähe dem Entsetzen darüber gewichen war, dass die
hosszú életek
ihn gefunden hatten. Er erinnerte sich an ihre Tränen auf seiner Wange, als er sie küsste und ihr versprach zurückzukehren. Er erinnerte sich an die Art und Weise, wie sie ihn fünf Jahre später angesehen hatte, als sie versucht hatte, ihn zum Gehen zu bewegen und ihm Geld zu geben, erinnerte sich, wie die Münzen in der Luft geglänzt und geglitzert hatten, als er sie von sich gestoßen hatte. Er sah den
Merénylő
vor sich mit seiner kranken Haut und seinen bösartigen Augen, wie er sich im Sattel aufgerichtet und die Armbrust abgeschossen hatte. Er erinnerte sich, wie er geglaubt hatte, getroffen worden zu sein, erinnerte sich an den grausamen, furchtbaren Schmerz angesichts dessen, was folgte: das leise Wimmern aus Ernas Mund, das klackernde Geräusch ihrer Zähne, als sie blindlings nach Luft schnappten, ihr Gewicht, als sie ihm aus den Armen glitt, das Glänzen des blutigen Bolzens, der aus ihrem Hinterkopf ragte, die Erkenntnis, dass er in der Zeit, die ein Schaft aus Holz und Metall benötigte, um ein paar Meter leeren Raums zu durchqueren, alles, wirklich alles, verloren hatte.
    Jakab bemerkte, dass er weinte. Ein schauderndes Schluchzen entrang sich seiner wogenden Brust. Er schob die zusammengelegten Hände zwischen die Knie und drückte, schaukelte vor und zurück, vor und zurück, während Tränen über seine Wangen rannen.
    Langsam fing er sich wieder.
    Er wischte sich die Nase, das Gesicht. Als er aufblickte, sah er in den Augen des alten Mannes ebenfalls Tränen.
    «Wo ist Anna?», fragte er.
    «Jakab, ich habe sie genauso geliebt wie du.»
    «Wohin hat Albert sie gebracht?»
    «Wenn ich gewusst hätte, was diese beiden Männer vorhatten, wenn ich gewusst hätte, wie es enden würde, ich hätte sie niemals gerufen. Ich hatte Angst, Jakab. Angst vor dir. Angst, Erna an dich zu verlieren.»
    «Ich muss sie finden.»
    «Du wirst sie nicht finden. Es tut mir leid für dich, Jakab, aber Anna hat ihr eigenes Leben, und sie hat ein Recht darauf, es mit wem auch immer sie will zu verbringen. Du darfst ihr das nicht verbieten. Deine Einmischung in Annas Leben endet hier, Jakab. Hier in diesem Raum.»
    Jakab zog sein Messer aus der Tasche, drehte es in der Hand, fuhr mit dem Daumen über die Klinge, sodass ein roter Schnitt entstand. Auf dem Sofa stöhnte Helene Richter leise auf. Sie wich zurück und drückte sich tief in die Polster.
    «Ich will kein weiteres Blutvergießen», sagte Jakab.
    «Dann tu das hier nicht –»
    «Aber ich muss sie finden. Bitte. Es ist eine ganz einfache Frage.»
    «Jakab, verstehst du denn nicht? Wir wissen nicht, wohin sie gegangen ist. Keiner von uns weiß das. Wir haben ihnen geholfen, ja. Aber sie kommen nicht wieder zurück. Nicht heute, nicht in der nächsten Zeit. Wir haben uns Lebewohl gesagt.»
    Jakab erhob sich und trat vor. Er betrachtete die Reflexion des Kaminfeuers auf der Messerklinge.

Weitere Kostenlose Bücher