Der Bann (German Edition)
zu schaffen, und er blickte immer wieder auf und suchte die Hügel ab, als spürte er die heimlichen Blicke des Killers auf sich ruhen, während er grub.
Nachdem das flache Grab vorbereitet war, zerrte der alte Mann Nates Leichnam über die Kante und legte ihn so behutsam hinein, wie er konnte. Vorher hatte Hannah das Blut von Nates Gesicht und Händen abgewaschen. Sie wollte, dass Leah das Bild ihres Vaters ohne die Spuren von Gewalt an seinem Leichnam in Erinnerung behielt.
Das kleine Mädchen war still und blass und hatte die Lippen zusammengepresst, als spulte sich vor seinen Augen ein Horrorfilm ab. Es beugte sich vor und schob seinem toten Vater einen Brief in die Hemdtasche. Hannah bemerkte die ungelenken Züge von Leahs Handschrift, doch brachte nicht den Mut auf, darüber zu grübeln, welche Fragen ihre Tochter stellte.
Im Schatten des Berges las Sebastien Worte aus dem Gebetbuch der anglikanischen Kirche, als Hannah Leah an der Hand packte.
«Denn wir haben nichts in die Welt gebracht; darum werden wir auch nichts hinausbringen. Der Herr gibt es, und der Herr nimmt es, gesegnet sei der Name des Herrn.»
Nate mochte nichts in die Welt gebracht haben, doch mit seinem Dahinscheiden hatte er alles Glück und allen Frieden mitgenommen, den Hannah jemals erhofft hatte. Sie schrie, als Sebastien die erste Schaufel Erde über den Toten warf und die Krümel über Nates Gesicht rollten. Sie fiel auf die Knie, und das kalte Erdreich durchnässte ihre Jeans. Sie hätte sich auf Nates Leichnam geworfen, hätte ihre Lippen auf seine Wangen gepresst, wenn Sebastien nicht die Schaufel weggeworfen und sie gepackt und Leah an sich gezogen und ebenfalls gehalten hätte.
Hannah schrie erneut, guttural und verloren, als Sebastien sie sanft von sich schob, die Schaufel aufnahm und seine Arbeit fortsetzte. Sie sah ihm zu, atmete hechelnd und voller Unglauben, wie sich Schaufel um Schaufel Erde auf Nates Brust legte, auf die Beine, die Stiefel.
Die rechte Hand verschwand zuerst unter der Erde, die Hand, die sie gehalten hatte, als sie gehechelt und gepresst und Leah auf die Welt gebracht hatte. Sie weinte ihr Lebewohl für die Finger, die ihre Wange gestreichelt und ihre Füße massiert hatten. Als Nächstes verschwand seine linke Hand. Den Ehering hatte sie ihm abgenommen; sie trug ihn nun an einer Kette um den Hals.
Drei Schaufeln später war sein Gesicht mit Erde bedeckt. Lippen, die sie geküsst hatten, die mit ihr gelacht hatten, die ihr Treue geschworen hatten bis in den Tod – übergeben an nasses Erdreich und Würmer und Steine. Augen, die ihre Tochter hatten heranwachsen sehen, Ohren, die gehört hatten, wie sie ihm ihre Liebe beteuert hatte, alles erlag dem kalten Druck der Erde. Eine Haarlocke und ein bleicher Streifen Stirn waren das Letzte, was sie von Nate sah.
Als Sebastien ein einfaches Holzkreuz in das Erdreich hämmerte, spürte Hannah, wie ihre Sicht verschwamm, ihre Kopfhaut prickelte, und dann fiel sie zu Boden, nutzlos und verausgabt. Hohl und verloren.
Sie erinnerte sich kaum an die Abreise von Llyn Gwyr. Sebastien führte sie zum Wagen, während sie unablässig murmelte und zitterte und ihm von ihren Plänen erzählte, vom Versteck ihrer Dokumente, ihrer Pässe, ihres Geldes. Als er über die Steinbrücke fuhr, wurde sie von ihrer Trauer übermannt. Sie stieß die Tür des Landrovers auf und wollte sich hinausstürzen. Nur der Sicherheitsgurt, in den sie sich verhedderte, hinderte sie daran, in den Fluss zu fallen.
Sebastien gab ihr ein Sedativum. Ein starkes Medikament aus seinem Militärbestand, das dicke Kissen um ihren Schmerz wickelte und ihn in einen tiefen Schacht warf, das sie gefügig machte und wach hielt und ansonsten ihr Bewusstsein praktisch ausschaltete. Hatte sie wirklich den Leichnam ihres Vaters gesehen, festgebunden am Wegweiser nach Llyn Gwyr, in den gefrorenen Händen eine Ausgabe seines letzten Werks? Oder war das nur eine makabre Halluzination gewesen, hervorgerufen von Sebastiens Drogen?
Sie erinnerte sich dunkel an ein Cottage irgendwo in Snowdonia, die Gesichter von Männern, die sie nicht kannte, die Gesichtszüge geschmolzen und aufgelöst in der trüben Suppe ihrer Gedanken. Das Innere eines Flugzeugs, die Kabine kürzer und enger als in jedem Flugzeug, in dem sie bisher geflogen war. Eine weitere Autofahrt, diesmal in der Nacht. Geflüsterte Unterhaltungen, der Schmerz, ihre Tochter leise schluchzen zu hören, die Schuldgefühle, als sie besinnungslos und
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