Der Bann (German Edition)
stieß einen Schrei aus, riss zwei der Schubladen von ihren Läufern und schleuderte sie quer durch das Zimmer. Sie zerbarsten laut scheppernd. Er trat eine der Schranktüren aus den Angeln. «Nein! Nein, nein, nein!
Neeeiiinnn!
» Jakab stürmte aus der Wohnung, sprang die Treppen hinunter und rannte auf die Straße.
Er benötigte mehrere Versuche, bis er den Wagen gestartet hatte, zum Teil wegen der Kälte und zum Teil, weil seine Hände zitterten und seine Sicht von Tränen verschwommen war.
Selbst an diesem Nachmittag, dachte er, als sie ihn im Flur ihres Elternhauses hinters Licht geführt hatte, hatte sie es elegant getan. Wie vollkommen sie doch war. Er verzehrte sich nach ihr.
Der Mercedes machte einen Satz nach vorn. Jakab steuerte ihn durch die schmalen Straßen. Er fuhr nicht zu schnell, bis er die breiteren Alleen erreichte, wo er alles aus dem Wagen herausholen konnte.
War sie noch zu Hause? Unwahrscheinlich. Doch wo sonst konnte er mit seiner Suche anfangen? Würde irgendjemand von ihrer Familie da sein? Er war so abgelenkt von dem Gedanken daran, sie zu verlieren, dass er beinahe die Abzweigung zu dem Waldweg übersehen hätte, der zum Haus der Richters führte. Als er das Lenkrad herumriss, hätte er fast ein entgegenkommendes Fahrzeug gerammt, das ohne Licht fuhr und mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeibrauste.
Du musst ruhig bleiben. Du musst nachdenken. Du kannst dir nicht leisten, Mist zu bauen.
Ein paar hundert Meter vom Anwesen entfernt fuhr er rechts ran. Der Wagen pflügte eine Dreckspur in den Schnee, als er zum Halten kam. Jakab schaltete den Motor ab.
Im Haus brannte Licht. Jakab nahm einen Revolver aus einem Lederkoffer auf dem Beifahrersitz, sprang aus dem Wagen, wischte sich die Tränen aus den Augen und rannte die Auffahrt entlang zur Vordertreppe. Er sprintete die Stufen hinauf und betätigte die Klingel. Hörte das Läuten tief im Innern des Hauses.
Seine Lungen brannten. Sein Kopf schwirrte. Falsch, alles war falsch. Er konnte nicht klar denken. Er hatte seine nächsten Aktionen nicht genügend durchdacht. Er hatte keine Idee, keinen Plan, keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte. Überwältigt sank er auf die Knie, stützte sich mit einer Hand auf den Steinen ab, konzentrierte sich auf das Atmen.
War er zu spät? Hatte er sie verloren? Hans war unvorsichtig genug gewesen, nur den Familiennamen zu ändern – ein Mann mit Alberts Intellekt würde diesen Fehler bestimmt nicht wiederholen.
Er hörte, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde, und blickte auf. Die Tür wurde geöffnet, und zum Vorschein kam das Gesicht eines alten Feindes.
«Albert?» Hans Richter blinzelte überrascht. «Was hast du vergessen? Was ist passiert?»
Jakab erhob sich, fletschte die Zähne.
«Du bist nicht –»
Jakab sprang vor, packte den alten Mann am Arm und zerrte ihn aus dem Haus. Als Hans die Treppe hinunter fiel, schlug Jakab ihm mit dem Revolver auf den Hinterkopf. Der alte Mann wand sich stöhnend auf dem Pflaster der Auffahrt. Er wollte sich umdrehen, doch Jakab sprang ihn an, hob den Revolver und hämmerte ihm den Lauf erneut auf den Kopf. Einen Moment später bemerkte er aus den Augenwinkeln eine weitere Bewegung oben an der Tür.
Helene Richter stand dort, eingerahmt von Licht, in ein Schultertuch gehüllt, in den Händen einen Hammer.
Mit tränennassen Augen starrte Jakab zu ihr hoch. «Hilf uns …», krächzte er.
Er hatte das Feuer im Kamin geschürt, bis es weiß glühend loderte, und endlich wurde ihm ein wenig warm. Der Widerschein der Flammen tanzte in den Scheiben der drei großen Fenster, die hinauszeigten in die schwarze Nacht.
Jakab wanderte im Salon auf und ab, während er versuchte, sich zu beruhigen. Er strich mit den Fingern über die Straußenfedern, über den Schildpatt der Zigarrenkiste und über die schweren Vorhänge.
Hans’ Schreibtisch stand genau an derselben Stelle wie an diesem Morgen. Der Waterman-Füllfederhalter lag immer noch da, doch das ledergebundene Tagebuch des alten Mannes war verschwunden. Das Regal, in dem weitere Bände mit der Geschichte der Richters gestanden hatten, war ebenfalls leer.
Jakab ließ sich Zeit. Er ging von einem Fenster zum anderen und schloss die Vorhänge. Dann kehrte er in die Mitte des Raums zurück und setzte sich in einen Lehnsessel. Er schloss die Augen, atmete tief durch und wartete, bis der Ärger und die Angst und der Schmerz langsam von ihm abfielen.
Dann öffnete er die Augen.
Helene Richter
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