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Der Bann (German Edition)

Der Bann (German Edition)

Titel: Der Bann (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen L. Jones
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ihre Tränen und ihre Trauer und ihre Schuld verdampfen könnte, würde sie die Arme ausbreiten und es annehmen?
    So desorientiert war sie von Leahs Verschwinden, von der Erkenntnis, dass es falsch gewesen war, das Mädchen nicht in ihrer Nähe zu behalten, vom Licht, das durch die Fenster strömte und sie mit seiner Intensität versengte, dass Hannah sich für einen Moment fragte, ob der Schock sie getötet hatte.
    Andererseits gab es sicher kein Leben im Jenseits, das so grausam war, nicht nur ihre Seele, sondern auch all ihren Schmerz, ihre Scham, ihre Angst aufzunehmen. Wenn Nate hier auf sie wartete, wie konnte sie ihm dann erklären, dass sie ihre wunderbare Tochter dem Monster ausgeliefert hatte, dem sie so lange Zeit wieder und wieder entwichen waren?
    Nein, dies war kein reinigendes Licht; es war das Licht der Klarheit. Sie wusste, dass ihre Chancen, Leah zu finden, immer geringer wurden. Doch selbst die kleinste Hoffnung war es wert, am Leben erhalten zu werden. Es war alles, was sie hatte. Und für den Moment war es alles, was sie brauchte.
    Hannah hörte auf, sich zu drehen. Sie zwang sich zu atmen, den Blick zu fokussieren. Das Erste, was sie bemerkte, war am Rahmen der Balkontür eine winzige rote Perle. Sie wusste sofort, was es war. Eine emaillierte Schuppe von der Drachenbrosche, die ihr Vater ihrer Mutter geschenkt hatte. Der Brosche, die Sebastien ihr in Llyn Gwyr gegeben hatte. Der Brosche, die sie vor einigen Tagen Leah gegeben hatte. Es war kein Versehen, dass die Schuppe dort klebte. Hannah pflückte sie vom Holz.
    Es war ein Signal. Ein Zeichen. Leah hatte die Schuppe für sie zurückgelassen, dessen war Hannah sich sicher. Was sie bedeutete, vermochte sie nicht zu sagen. Doch sie klammerte sich daran, an das, was sie repräsentierte, und stürzte durch die Türen nach draußen ins Licht.
     
    Er hatte ihr gesagt, dass sie sich ducken und ganz klein machen sollte, und obwohl Leah wusste, dass es ein vernünftiger Rat war, konnte sie nicht widerstehen und schob sich hoch genug im Beifahrersitz, um über das Armaturenbrett nach draußen zu spähen. Sebastien drehte den Schlüssel in der Zündung. Der Motor des großen weißen Audi sprang brummend an.
    «Die Show ist vorbei …», murmelte der alte Mann. Dann trat er das Gaspedal durch, und die Räder spuckten Schotter, während das Fahrzeug rückwärts über den Vorplatz schoss. Sebastien kurbelte am Lenkrad, und der Wagen schleuderte in eine Rückwärtskurve, bis seine Nase zu dem Weg zeigte, der zur Hauptstraße führte. Weißer Staub trieb über die Motorhaube. Sebastien warf einen Blick auf das Haus im Rückspiegel, während er den Vorwärtsgang einlegte.
    «Nicht auf die Hauptstraße!», rief Leah erschrocken. «Dort warten sie auf uns!» Die Eleni, die die Zufahrt bewachten, würden sie abfangen.
    Sebastien sah sie von der Seite an. Sie hatte nicht erwartet, ihn grinsen zu sehen, und es verwirrte sie. «Schlaues Mädchen», sagte er. «Was schlägst du vor?»
    Sie wusste, dass er einen vernünftigen Vorschlag von ihr erwartete. Sie durfte nicht nur dasitzen und ihm alle Arbeit überlassen. Sie mussten zusammenarbeiten, wenn sie überleben wollten. Und sie mussten einen Weg finden, ihre Mutter zu retten.
    Ungewollt tauchte ein Bild vor ihrem geistigen Auge auf: der große Eleni, der ihre Mutter an den Stuhl fesselte. Sie wollte weinen, doch das durfte sie nicht, also wurde sie stattdessen wütend.
    «Nimm die Abzweigung dort», sagte sie und zeigte nach links auf einen zugewucherten Feldweg. «Durch den Wald.»
    Sebastien fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, dann nickte er. Der Audi schoss vorwärts, und Leah wurde in den Sitz gedrückt. Sekunden später waren sie aus der Sonne und unter den Bäumen. Der schwere Wagen hüpfte und schaukelte, und die Reifen fanden nur wenig Halt auf dem ausgewaschenen, staubigen Weg. Als sie durch ein tiefes Schlagloch fuhren und Sebastien sich den Kopf stieß, sagte er ein Wort, das Leah niemals aus seinem Mund zu hören erwartet hätte.
    «Wann kehren wir um und holen Mami?»
    «Bald.»
    «Wir dürfen sie nicht bei dem Bösen Mann zurücklassen.»
    «Welchem Mann?»
    «Du weißt schon. Dem Bösen Mann.»
    «Wenn du mich fragst, haben alle ziemlich böse ausgesehen.»
    Leah runzelte die Stirn. Sie fragte sich, ob seine Antwort ernst gemeint war oder sarkastisch. «Und wann kehren wir nun um?»
    «Sobald wir dich weit genug weggebracht haben.»
    «Aber dann müssen wir den ganzen Weg wieder

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