Der Bann (German Edition)
wollen, keine Frage. Doch er konnte nicht so tun, als wären seine Motive vollkommen selbstlos gewesen. Es war auch Neugier gewesen, die ihn getrieben hatte. Und der Wunsch, sie wiederzusehen.
Er öffnete die Fahrertür und sprang aus dem Wagen. Wappnete sich innerlich gegen den Anblick, der ihn vielleicht erwartete, als er die Grasböschung hinaufkletterte. Ein von Brombeerranken überwucherter Entwässerungsgraben trennte ihn vom Feld dahinter. Auf dem Feld wuchs dicht an dicht Weizen, bis auf die dunkle Narbe im Erdreich, die Nicoles Wagen hinterlassen hatte.
Der Hillman war eine verbeulte und verzogene Kiste, über und über voll mit Erde und Dreck. Er musste sich wenigstens einmal vollständig überschlagen haben, denn er lag nun auf den gebrochenen Achsen.
Rauch stieg vom Motorblock auf und verflüchtigte sich in der frischen Brise sogleich. Hinter dem Wagen lagen Metallteile und Glasscherben, Hinweise auf seinen zerstörerischen Weg durch das Feld.
Charles glitt die Böschung hinunter und in den Graben. Er rutschte mit seinen glatten Sohlen auf Steinen und Gestrüpp aus, verzog das Gesicht und bahnte sich seinen Weg durch ein Gewirr von Brombeeren, Ginster und Jakobskraut. Dornen stachen durch seine Hemdsärmel. Stacheln pieksten ihn in die Arme. Er spürte Blut, lange bevor er sich durch das Gestrüpp hindurchgekämpft hatte.
Als er auf der anderen Seite die Böschung hinaufgestiegen war und die letzten Ranken hinter sich gelassen hatte, stolperte er in das Feld. Seine Arme brannten, wo er sich an Brombeeren gekratzt hatte oder an Nesseln vorbeigestreift war. Sein Kopf juckte von den Kletten, die er unterwegs eingesammelt hatte. Etwas summte dicht neben seinem Ohr. Er winkte es mit einer lästigen Handbewegung weg und musterte den Hillman. Aus der Nähe sah er noch schlimmer aus, als Charles im ersten Moment gedacht hatte. Ein Klumpen aus zerbeultem, abgerissenem Metall.
Und dann erblickte er Nicoles Beifahrerin. Adrenalin schoss in seine Adern. Sie bewegte sich vorsichtig, tastete auf der anderen Seite des Wagens umher, als herrschte dichter Nebel. Sie blutete aus einer Wunde auf der Stirn, und eine Wange war rot und geschwollen. Doch sie war am Leben.
Erleichtert rief Charles nach ihr. Als sie seine Stimme hörte, zögerte sie und blickte auf. Warf einen schnellen Blick auf das Autowrack. Dann hob sie eine Hand und stolperte ihm entgegen.
Die Sonne hatte die Erde zu einer harten Kruste verbrannt. Unter der Matte aus Stoppeln und Stängeln war der Boden mit Rissen durchzogen. Es machte das Vorankommen schwierig, und bis sie ihn erreicht hatte, war sie vor Anstrengung völlig außer Atem.
Sie muss früher einmal eine attraktive Frau gewesen sein, dachte Charles. Altersfalten – bestimmt jedenfalls keine Lachfalten – durchzogen ihr Gesicht, ohne die definierten Züge darunter zu verbergen. Als sie ihn anblitzte, sahen ihre Augen beinahe schwarz aus. Ihre Haare waren vom gleichen satten Kastanienbraun wie die von Nicole, doch sie hatten ihren Glanz vor langer Zeit verloren. Charles fragte sich, ob Schmerz der Grund war, aus dem sie die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst hatte.
Als er die letzten Meter zu ihr überwand, beugte sie sich stöhnend vor. Eine Gehirnerschütterung?, überlegte er. Gebrochene Rippen? Er starrte auf ihre Schädeldecke und die fleckige weiße Haut unter dem Schopf unfrisierter Haare … es erinnerte ihn an Hühnerfüße. «Ist alles in Ordnung?»
Sie ignorierte ihn. Oder vielleicht verstand sie ihn auch nicht. Oder hatte zu große Schmerzen, um zu antworten. Von seinem jetzigen Blickwinkel aus konnte er nicht sehen, ob sie die Augen geöffnet hatte, ob sie blutunterlaufen waren oder ob sie Schmerzen hatte.
Charles streckte die Hand nach ihr aus, und genau in diesem Moment richtete sie sich auf. Er sah, dass sie etwas mit den Händen umklammert hielt, doch es war zu spät. Sie schwang es hoch gegen seinen Kopf.
Der stumpfe Stein krachte gegen seine Nase, und sein Kopf flog nach hinten. Schmerz durchzuckte ihn, und die Welt kippte, als er das Gleichgewicht verlor. Plötzlich lag er ohne Luft auf dem Rücken und blinzelte hinauf in den Himmel. Er hob die Hände und legte sie schützend über die Nase. Die Berührung erzeugte heiße elektrische Spasmen voll heftigem Schmerz. Er spürte, wie warmes Blut zwischen seinen Fingern hindurchquoll.
Vor seinen Augen tanzten Lichtpunkte. Leuchtkäfer aus Schmerz. Er blinzelte durch tränenverhangene Augen und suchte im
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