Der Bann (German Edition)
mit einer Kordel. Einige von ihnen waren so alt, dass sie auseinanderfielen, das Leder der Bindungen gerissen, die Seiten brüchig und braun. Nicoles Hände lagen auf dem Stapel, und ihre Finger spielten mit dem Knoten. Ihr Gesicht verriet keine Regung, als sie die Straße vor ihnen studierte, die Augen zusammengekniffen gegen den Wind und die grelle Sonne. Sie wirkte stark und entschlossen, und doch hatte er an der Unfallstelle für einen Moment Angst bei ihr bemerkt – eine Angst, die ebenso flüchtig wie beunruhigend gewesen war. Er wusste, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, als sie ihm verraten hatte, dass sie nur selten jemanden um Hilfe bat. Es war offensichtlich – erkennbar an ihrer Art zu sprechen, ihrer Haltung, jeder Interaktion mit ihm –, dass sie daran gewöhnt war, allein zurechtzukommen.
Er fragte sich, welche Ereignisse, welche Schicksalsschläge oder Entscheidungen sie so geformt hatten. Und er fragte sich, ob er es herausfinden würde.
Die London Road führte zum Motorway, doch anstatt nach Süden in Richtung London nahm er die Auffahrt nach Norden. Er blieb auf dem Motorway bis zur Ausfahrt von Wendlebury und fuhr dann um Bicester herum, bevor er über Nebenstraßen den Weg nach Westen in Richtung Woodstock einschlug. Es war eine umständliche Route, doch er spürte, dass Nicole Zeit benötigte, um ihre Gedanken zu ordnen. Erst als er den letzten Abschnitt des Heimwegs erreicht hatte, wurde sie ruhiger und kontrollierte nicht mehr unablässig die Straße hinter ihnen. Schließlich döste sie sogar ein wenig.
Charles kontrollierte sein Gesicht im Rückspiegel. Seine Nase – ohnehin nie ein besonders anmutiges Körperteil – war unförmig geschwollen und purpurn. Verkrustetes Blut klebte an den Rändern seiner Nasenlöcher und an seinem Kinn. Seine Kleidung war verschmutzt und stellenweise von den Dornen zerrissen. Seine Unterarme waren zerkratzt und blutig.
Eigenartig, doch trotz des pulsierenden Schmerzes im Gesicht und trotz des immer stärker werdenden Drucks hinter den Augen fühlte er sich geradezu
beschwingt
. Er wusste, dass ein Teil des Gefühls vom Adrenalin herrührte, das durch seinen Kreislauf raste. Doch es steckte mehr dahinter als nur Adrenalin. Es fühlte sich an, als wäre ein verborgener Teil von ihm aufgesperrt worden und als wäre er außer sich vor Freude, weil endlich Tageslicht zu ihm hereinströmte.
Seine Gedanken gingen zu der alten Frau, die ihn so wirkungsvoll niedergeschlagen hatte. Er verdrehte den Spiegel, um sie zu betrachten. Nicoles Mutter bemerkte es und erwiderte sein Starren. In ihren Augen war keine Spur von Wärme, keine Spur von Vertrauen. Vermutlich hätten sie nie einen Unfall erlitten, hätte er sie nicht so ungestüm gejagt. Sie war ihm nichts schuldig, im Gegenteil. Trotzdem entzog sich ihr Verhalten, nachdem er den beiden Frauen zu Hilfe geeilt war, jeglichem Verständnis. Sie war bereit gewesen, ihn zu töten – fest entschlossen, ihm den Schädel einzuschlagen und sein Gehirn in die Erde sickern zu lassen.
Charles rief sich seine Unterhaltung mit der Alten in der Telefonzelle draußen vor dem Balliol College ins Gedächtnis. Sie hatte ihn
démon
genannt und
Jakab
. Es war offenkundig, dass sie ihn für jemanden hielt, der den beiden Frauen Schaden zufügen wollte. Wäre nicht die Erinnerung an ihre kalten schwarzen Augen gewesen, als sie mit dem Stein in der erhobenen Hand über ihm gestanden hatte, Charles hätte vielleicht sogar Mitleid empfunden. Doch dazu war es viel zu früh.
Er drückte den Spiegel weg.
Sie passierten einen Hügelkamm. Die Straße nach unten war gesäumt von massiven Eichen, deren Kronen ein Blätterdach bildeten. Der Stag jagte in einen grünen Tunnel, und das Sonnenlicht kämpfte sich in kleinen Sprenkeln durch das dichte Laub.
Im feuchten Mulch am Straßenrand lag der aufgedunsene, verwesende Kadaver eines Hirschs. Anscheinend hatte ein Fahrzeug ihn erwischt und ihm das Genick gebrochen. Der Kiefer war zerschmettert, und Blut war aus Maul, Ohren und Nase geströmt. Fliegen tanzten darin. Charles verzog das Gesicht, als sie vorbeifuhren.
«Wohin fahren Sie?» Der Anblick des toten Tieres hatte Nicole aus ihren Gedanken gerissen. Schlagartig war sie hellwach und richtete sich auf ihrem Sitz auf. «Charles, wo sind wir hier?»
Er hörte das Misstrauen in ihrer Stimme, und es bedrückte ihn. Er wusste, dass er vorsichtig sein und seine natürliche Neigung zu führen zügeln musste. Es war kein Feld, auf dem
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