Der Bastard
gewesen, das nicht einmal Clara hätte gesellschaftsfähig r e den können. Ihre Schwiegertochter hätte für alle offensichtlich ein uneheliches Kind gehabt, und dazu noch von einem Schwarzen.»
Pia dachte an Heinrichs Worte über den kleinen Skandal. Hatte Jonathan mit seiner Behauptung recht?
Er fuhr fort: «Das sind alles Vermutungen und Hypothesen. Meines Wissens hatte Anna keine Aff ä re und somit auch kein Kind, weder schwarz noch weiß.» Bei diesen Worten lächelte er wieder. «Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht wirklich weiterhelfen.»
Pia atmete tief durch. Es konnte einfach nicht sein, dass die ganze Familie nichts von dem Kind wusste. Anna konnte doch nicht eine Schwangerschaft und eine Geburt hinter sich gebracht haben, ohne dass es j e mand bemerkt hätte. Und wenn doch, was hatte sie mit dem Kind gemacht? Wo war der Junge bisher gewesen, wer hatte sich seiner angenommen ? W a rum hatte sich nach Annas Tod nicht jemand an die Familie g e wandt und das Kind zur Sprache gebracht?
Aber sie schwiegen alle. Und auch Jonathan Kingsley war nicht besonders mitteilsam.
«Wo hat meine Schwester sich aufgehalten, nachdem Maximilian nach Deutschland zurückgekehrt war?»
«In ihrem Haus, nehme ich an.»
«Haben Sie sie in dieser Zeit kein einziges Mal gesehen?»
Er zögerte und verneinte schließlich. Bevor Pia etwas sagen konnte, sprach Jonathan Kingsley weiter.
«Wie kommt es, dass Sie nichts darüber wissen, Sie sind doch Annas Schwester?»
Pia entschied sich für die Wahrheit. «Weil wir uns auf der Hochzeit gestritten hatten. Danach ist der Kontakt abgebrochen.»
«Wie schade», sagte Kingsley und lächelte süff i sant. Pia war sich sicher, dass er die Antwort gekannt hatte. Sie fühlte sich hilflos, und das ärgerte sie.
«Hatte meine Schwester in Afrika Freunde?»
«Keine, von denen ich weiß. Außer natürlich bei den Massai.»
«Wo waren Sie, als Sie von Annas Tod erfuhren?»
Jonathan lächelte. «Wollen Sie mich verhören?»
«Ich versuche, die Wahrheit herauszufinden. Ich will wissen, warum ich dreizehn Jahre lang Annas Kind nicht kennenlernen durfte. Ich könnte verst e hen, dass die Familie Sibelius Gründe hat, mich zu belügen. Bei Ihnen verstehe ich es nicht.»
Jonathans Miene war verschlossen, als er aufstand . « Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte. Vielleicht sollten Sie die Quelle Ihrer Informationen noch einmal aufsuchen und in Frage stellen, b e vor Sie mich der Lüge bezichtigen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?»
Pia fühlte ihre Ohnmacht. Es gab nichts, womit sie diese Leute zwingen konnte, die Wahrheit zu sagen. Sie hätte Dr. Kingsley gern an den Schultern gepackt und geschüttelt. Sie stand auf und wollte eine Visitenkarte für Kingsley aus ihrer Tasche holen. Dabei sah sie die Akte mit dem Obduktionsbericht. Sie öf f nete die Mappe und holte ein Foto heraus, auf dem ihr toter Neffe mit geschlossenen Augen und noch bekleidet auf dem kalten Stahl des Obduktionstisches lag. Sie war sich bewusst, dass sie eine Grenze überschritt. Es war unmoralisch und unprofessionell. Es war jedoch die einzige Möglichkeit, das arrogante Schweigen dieser Menschen zu durchbrechen. Sie legte das Bild auf den Tisch.
«Das ist der Grund meines plötzlichen Interesses. Und das ist auch meine Quelle. Wenn Sie mir noch etwas zu sagen haben, rufen Sie mich an.»
Sie sah, wie Jonathans Augen sich weiteten.
Ja, mein Lieber, dachte sie. So sieht der Tod aus. Sie drehte sich um und ging zur Tür. Sie hatte den Eindruck, er wollte noch etwas sagen, doch sie hatte gerade jetzt keine Lust, sich noch eine süffisante Bemerkung anzuhören. Sie ließ die Tür offen und verließ ü ber das Treppenhaus die stille und gediegene Pracht der Sibelius-Klinik.
21
M aximilian Sibelius verließ erschöpft den OP. Es war nur ein Routineeingriff gewesen. Doch immer mehr gewann seine Unsicherheit die Oberhand, wenn er eine Operation leitete. Eine latente Übelkeit war zu seinem ständigen Begleiter geworden, sobald er einen OP betrat und Blut oder offenes Fleisch sah.
«Liegt heute noch etwas an?», fragte er seine Assistentin, während sie gemeinsam zu den Umkleiderä u men gingen. Sie verneinte, und er atmete erleichtert auf. Zum Glück einer dieser kurzen Tage.
Der Besuch seiner Schwägerin am Morgen hatte auch nicht dazu beigetragen, den Tag schöner zu machen. Pia hatte ihn überrumpelt. Im ersten Moment hatte er geglaubt, Anna stünde vor ihm, mit kürz e ren Haaren und
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