Der Bastard
einigen Fältchen im Gesicht. Aber es war nur eine kurze Schrecksekunde gewesen. Jedoch genug Zeit, um nach so langer Zeit wieder sein G e wissen zu wecken. Er war gut im Verdrängen. Aber was sollte er tun? Er wollte es allen recht machen, und das ging manchmal einfach nicht.
Bevor er sein Büro betrat, hielt ihn Frau Kleinhenz auf.
«Sie haben heute noch zwei Termine. Der nigerianische Botschafter möchte gern über seine Tochter mi t I hnen sprechen. Ich habe ihm gesagt, Sie rufen bis sp ä testens 16 Uhr zurück. Und Frau Mbelele bittet um e i ne Visite. Ich habe ihr gesagt, Sie seien im OP b e schäftigt und würden vorbeikommen, sobald es Ihre Zeit erlaubt.»
«Danke, Frau Kleinhenz.»
Er bat sie noch um einen Kaffee und betrat dann sein Büro. Hier setzte er sich in den großen bequemen Bürosessel und legte die Füße auf den Tisch. Aus der o bersten Schublade holte er die neueste Ausgabe von « Der Blinker » und seufzte zufrieden. Im Herbst würde er endlich zwei Wochen freine h men und mit Marien zu einem Angelurlaub nach Kanada reisen.
Frau Kleinhenz klopfte leise und stellte ihm den Kaffee auf den Tisch, eine volle Thermoskanne mit einer großen Henkeltasse und einem kleinen Krug Milch. So wie immer. Nachdem sie gegangen war, goss er ein, trank einige Schlucke und vertiefte sich in einen Artikel über Lachsfang. Nach einigen Min u ten glitt die Zeitschrift auf seinen Schoß, und er war eingedöst.
Ein lautes Klopfen weckte ihn. Er murmelte etwas, die Tür ging auf, und sein Besuch betrat den Raum. Max schwang die Füße vom Tisch und stand rucka r tig auf.
«Mutter.»
«Grüß Gott, Maximilian.» Seine Mutter wandte sich um.
«Bringen Sie mir bitte auch eine Tasse, Irene.»
Clara Sibelius pflegte gegenüber Angestellten stets nur den Vornamen zu verwenden. Keine der Damen beschwerte sich darüber. Clara setzte sich ohne Aufforderung gegenüber Maximilian an den Tisch.
«Entschuldige den unangemeldeten Besuch, doch wir müssen etwas Wichtiges besprechen.»
Maximilian setzte sich wieder und sah zu, wie Ir e ne Kleinhenz Kaffee für Clara einschenkte, sich en t fernte und leise die Tür hinter sich schloss.
Er sah seine Mutter erwartungsvoll an. Clara nahm ihre Tasse zur Hand und trank bedächtig einen Schluck. Den kleinen Finger spreizte sie dabei ab. Maximilian fiel das wie immer auf. Als Kind hatte er sie danach gefragt. Doch geantwortet hatte sein Großvater:
«Weil deine Mutter eine Dame ist.»
«Und die anderen Frauen sind keine Damen?»
Sein Großvater hatte gelacht und ihn auf den Schoß genommen.
«Nicht alle. Aber einige schon. Wenn du groß bist, solltest du unbedingt eine Frau heiraten, die das auch macht. Du bist ein Sibelius. Du wirst Medizin studieren und ein guter Arzt werden, wie wir alle.»
«So wie mein Papa?»
Diese Frage hatte ein kurzes betretenes Schweigen verursacht. Großvater hatte etwas in seinen Bart hineingemurmelt und seiner Mutter die Antwort ü berlassen.
«Ja, so wie dein Papa.»
Anna hatte nie den kleinen Finger gespreizt.
«Ich will, dass du gefasst bist, wenn er es dir sagt. » C laras Stimme drang wieder in sein Bewusstsein.
«Entschuldige, kannst du bitte noch einmal von vorn beginnen. Ich bin wohl noch nicht ganz wach.»
Clara sah ihn vorwurfsvoll an. «Ich habe dir gerade mitgeteilt, dass dein Vater krank ist, sehr krank. Krebs im Endstadium.»
Maximilian sah sie ungläubig an.
«Wie bitte? Wieso im Endstadium? Hat er denn nichts bemerkt? Das kann doch nicht sein.»
Clara wiederholte noch einmal, was sie schon zweimal gesagt hatte.
«Es ist, wie ich gesagt habe. Wir können nichts mehr für ihn tun. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Du weißt selbst, wie schnell das gehen kann. Du bist Arzt.»
Ja, er war Arzt. Maximilian drehte sich zum Fen s ter. Er wollte nicht, dass seine Mutter ihm ins Gesicht blickte und jede Regung registrierte, während ihm die Gedanken durch den Kopf schossen. Sein V a ter würde sterben, und er müsste die Klinik übernehmen. Er könnte nicht mit Marien nach Kanada fliegen. Die Klinik war für ihn ohne Heinrich nicht vorstellbar. Wenn Jonathan ging, würde sowieso alles den Bach runtergehen. Und wenn er bliebe, würde er ihm endgültig das Leben zur Hölle machen. Er spürte nichts, wartete, dass sich Trauer oder Schmerz einstellte. Aber da kam nichts, nur die Sorge, dass ihn Heinrichs Tod noch e n ger an diese verfluchte Klinik binden würde.
«Und warum sagt er mir das nicht selbst?»
«Das wird er schon.
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