Der Bauch von Paris - 3
Florent wurde natürlich am meisten gehört. Gavard hatte seine Zunge nicht im Zaum halten können und nach und nach die ganze Geschichte von Cayenne erzählt, die Florent mit dem Ruhm eines Märtyrers umgab. Seine Worte wurden zu Glaubensartikeln. Eines Abends rief der Geflügelhändler, erzürnt darüber, daß man seinen abwesenden Freund angriff:
»Vergreifen Sie sich nicht an Florent, er ist in Cayenne gewesen!«
Aber Charvet war sehr gekränkt über diesen Vorzug.
»Cayenne, Cayenne«, murmelte er zwischen den Zähnen, »so schlimm ist es ihm ja alles in allem dort auch nicht gegangen!« Und er versuchte zu beweisen, daß die Verbannung gar nichts sei, daß das größere Leiden darin bestehe, angesichts des siegreichen Despotismus mit geknebeltem Mund in seiner unterdrückten Heimat zu bleiben. Übrigens sei es nicht seine Schuld, daß man ihn am 2. Dezember nicht verhaftet hatte. Er gab sogar zu verstehen, daß sich nur die Dummen erwischen lassen. Diese dumpfe Eifersucht machte ihn zum systematischen Gegner Florents. Die Erörterungen wurden schließlich stets allein zwischen ihnen ausgetragen. Und stundenlang redeten sie noch inmitten des Schweigens der anderen, ohne daß sich einer von ihnen geschlagen gegeben hätte.
Eine der Lieblingsfragen war die Reorganisation des Landes gleich nach dem Siege.
»Wir haben also gesiegt, nicht wahr …?« begann Gavard.
Und den Sieg einmal vorausgesetzt, brachte nun ein jeder seine Meinung vor. Es gab zwei Lager. Charvet, der sich zum Hébertismus35 bekannte, hatte Logre und Robine für sich. Florent, der stets in seinen menschheitsbeglückenden Traum versunken war, gab sich als Sozialist aus und stützte sich auf Alexandre und Lacaille. Was Gavard anging, so schreckte er nicht vor gewalttätigen Ideen zurück, aber da man ihm manchmal mit scharfen Spötteleien, die ihn aufbrachten, sein Vermögen vorwarf, war er Kommunist.
»Es muß reiner Tisch gemacht werden«, sagte Charvet in seiner abgehackten Redeweise, als habe er einen Beilhieb versetzt. »Der Stamm ist faul, er muß umgehauen werden.«
»Ja, ja!« bekräftigte Logre und stand auf, um größer zu erscheinen, und stieß dabei mit seinem Buckel gegen die Wand, daß sie wackelte. »Alles muß niedergerissen werden, das sage ich euch, ich … Danach werden wir sehen.«
Robine nickte zustimmend mit dem Bart. Sein Schweigen schwelgte förmlich, wenn die Vorschläge ganz und gar revolutionär wurden. Bei dem Wort Guillotine36 nahmen seine Augen einen ganz sanften Ausdruck an; er schloß sie halb, als sehe er das und rührte es ihn, und dann kratzte er sich leicht das Kinn am Knauf seines Spazierstocks mit dem dumpfen, befriedigten Schnurren eines Katers.
»Wenn Sie«, meinte Florent seinerseits, dessen Stimme einen fernen Klang von Traurigkeit bewahrte, »wenn Sie jedoch den Baum umhauen, wird es notwendig sein, Samen aufzubewahren … Ich glaube im Gegenteil, daß der Baum erhalten bleiben muß, um ihm das neue Leben aufzupfropfen … Die politische Revolution ist da, sehen Sie, da muß dann an den arbeitenden Menschen, an den Arbeiter, gedacht werden, unsere Bewegung muß völlig sozial sein. Und ich möchte nicht raten, diese Ansprüche des Volkes aufzuhalten. Das Volk hat es satt, es verlangt seinen Teil.«
Diese Worte begeisterten Alexandre. Er bestätigte mit seinem heiteren Gesicht, das stimme, das Volk habe es satt.
»Und wir verlangen unser Teil«, fügte Lacaille mit drohender Miene hinzu. »Alle Revolutionen geschehen für die Bourgeoisie. Davon haben wir nun schließlich genug. Erst einmal soll sie für uns geschehen.«
Da war es mit dem Einvernehmen zu Ende. Gavard bot Teilung an. Logre wies das zurück und schwor, daß er auf Geld keinen Wert lege.
Allmählich redete dann Charvet, der den Tumult übertönte, allein weiter.
»Der Egoismus der Klassen ist eine der festesten Stützen der Tyrannei. Es ist schlimm, wenn das Volk egoistisch ist. Wenn es uns hilft, wird es sein Teil bekommen … Warum soll ich für den Arbeiter kämpfen, wenn er nicht für mich kämpfen will? – Und außerdem handelt es sich gar nicht darum. Zehn Jahre revolutionärer Diktatur sind nötig, um ein Land wie Frankreich an den Gebrauch der Freiheit zu gewöhnen.«
»Um so mehr«, meinte Clémence rundheraus, »als der Arbeiter nicht reif ist und geführt werden muß.«
Sie sprach selten. Dieses große ernste, unter all die Männer geratene Mädchen hatte eine schulmeisterliche Art zuzuhören, wenn über Politik
Weitere Kostenlose Bücher