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Der Bauch von Paris - 3

Der Bauch von Paris - 3

Titel: Der Bauch von Paris - 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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eine Ecke in einem Bett, aß ein wenig überall seine Suppe, wurde gekleidet durch die Barmherzigkeit Gottes und hatte trotzdem tief in seinen durchlöcherten Taschen einige Sous. Ein rothaariges schönes Mädchen, das Heilkräuter verkaufte, hatte ihn Marjolin getauft, ohne daß jemand wußte warum.
    Marjolin war fast vier Jahre, als auch Mutter Chantemesse einen Fund machte: ein kleines Mädchen auf dem Bürgersteig der Rue SaintDenis an der Ecke des Marché des Innocents. Die Kleine mochte zwei Jahre alt sein, plapperte aber schon wie eine Elster, wobei sie in ihrem kindlichen Geschwätz die Worte verkehrt aussprach; immerhin glaubte Mutter Chantemesse zu verstehen, daß sie Cadine heiße und ihre Mutter sie am Abend zuvor unter eine Toreinfahrt gesetzt und zu ihr gesagt hatte, sie solle auf sie warten. Dort hatte das Kind geschlafen; es weinte nicht und erzählte, daß es geschlagen werde. Dann ging sie mit Mutter Chantemesse mit, war vergnügt und entzückt über den großen Platz, wo es so viele Leute und soviel Gemüse gab. Mutter Chantemesse, die einen Kleinhandel betrieb, ware eine biedere, sehr mürrische Frau, die schon an die Sechzig ging. Sie liebte Kinder leidenschaftlich, weil sie drei Jungen in der Wiege verloren hatte. Sie dachte, daß »diese kleine krätzige Fose nicht totzukriegen sei«, und nahm Cadine an Kindes Statt an.
    Als eines Abends Mutter Chantemesse heimging und Cadine an der rechten Hand hielt, ergriff Marjolin ganz einfach ihre Linke.
    »He, mein Junge«, sagte die Alte und blieb stehen, »der Platz ist vergeben … Du bist also nicht mehr bei der langen Thérèse? Du bist ein toller Schürzenjäger, weißt du das?«
    Er sah sie an mit seinem Lachen, ohne sie loszulassen. Sie konnte nicht brummig bleiben, so hübsch und lockig war er.
    »Los, kommt schon, ihr Gören … Ich werde euch zusammen schlafen legen.«
    So kam sie in der Rue au Lard, wo sie wohnte, mit einem Kind an jeder Hand an. Marjolin blieb nun bei Mutter Chantemesse. Wenn ihr die Kinder gar zuviel Getöse machten, langte sie ihnen ein paar hinter die Ohren, war glücklich, schreien, sich ärgern, ihnen das Gesicht waschen und sie unter dieselbe Bettdecke stecken zu können. Sie hatte ihnen in einem alten Wagen eines fliegenden Händlers, an dem Räder und Deichsel fehlten, ein kleines Bett hergerichtet. Er glich einer großen Wiege, war ein wenig hart und roch noch nach den Gemüsen, die sie darin lange unter feuchten Tüchern frischgehalten hatte. An die vier Jahre schliefen Cadine und Marjolin in diesem Wagen, eines im Arm des anderen.
    Sie wuchsen also zusammen auf, und immer sah man sie, einander die Hände um die Hüften gelegt. Nachts hörte Mutter Chantemesse sie leise schwatzen. Stundenlang erzählte Cadines Flötenstimmchen endlose Geschichten, denen Marjolin mit dumpferem Staunen lauschte. Sie war recht bösartig, erfand Geschichten, um ihm Angst einzujagen, und meinte zu ihm, daß sie in der vergangenen Nacht einen ganz weißen Mann am Fußende ihres Bettes gesehen habe, der zu ihnen hinsah und eine große rote Zunge heraussteckte. Marjolin schwitzte vor Angst, bat sie um Einzelheiten; und sie machte sich über ihn lustig und nannte ihn »dummes Tier«. Andere Male waren sie unartig, gaben einander unter den Decken Fußtritte, und Cadine zog die Beine an und erstickte vor Lachen, wenn Marjolin sie verfehlte und mit aller Kraft gegen die Wand stieß. Dann mußte Mutter Chantemesse aufstehen, um die Decken wieder unter der Matratze festzustecken; sie brachte sie beide mit einer Ohrfeige auf dem Kopfkissen zum Einschlafen. So war das Bett lange Zeit eine Stätte der Belustigung für sie; sie nahmen ihr Spielzeug dahin mit, aßen dort gestohlene Möhren und Kohlrüben. Jeden Morgen war ihre Adoptivmutter ganz überrascht, seltsame Dinge dort zu finden: Kieselsteine, Blätter, Apfelgriebse, aus Lumpen angefertigte Puppen. Und an sehr kalten Tagen ließ sie sie im Bett liegen und schlafen, Cadines schwarzes Wuschelhaar mit Marjolins blonden Locken vermengt, so dicht Mund an Mund, daß sie sich gegenseitig mit ihrem Atem zu wärmen schienen.
    Diese Stube in der Rue au Lard war ein großer verfallener Bodenraum, den ein einziges Fenster mit vom Regen matt gewordenen Scheiben erhellte. Die Kinder spielten in dem hohen Nußbaumschrank und unter Mutter Chantemesses riesigem Bett Versteck. Auch zwei oder drei Tische standen darin, unter denen sie auf allen vieren hindurchkrochen. Das war entzückend, weil es hier nicht

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