Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind
nicht dein Land, Chloe. Du gehörst nach Amerika. Geh dahin, wo die Frauen frei sind, und tu, was du kannst, um uns auch zu befreien."
Chloe hob den Kopf. Ihre Stimme klang tränenerstickt, als sie erwiderte: „Wenn ich dir damit diene, Schwester in meinem Herzen."
In dem Moment gab Kemal einen ungeduldigen Laut von sich und stieß sich von dem nutzlos gewordenen Wagen ab. Seine Aufmerksamkeit galt aber nicht den beiden Frauen, sondern der Straße, auf der sich ein Lastwagen näherte, der in der zunehmenden Dämmerung kaum zu sehen war, wenn man vom
Lichtkegel der Scheinwerfer absah. Der Tadschike stellte sich mitten auf die Straße und hob eine Hand.
Einige Sekunden lang war nur das Dröhnen eines Dieselmotors zu hören, dann ertönte das Zischen und Quietschen von Bremsen. Der Lastwagen hielt tatsächlich an.
Kemal machte eine herrische Handbewegung in Freshtas Richtung und rief sie zu sich.
„Ja", erwiderte sie nur. Ihr Tonfall ließ kaum eine Spur von Gehorsam erkennen. Sie wandte sich abermals Chloe zu und umarmte sie, dann verabschiedete sie sich mit einem Kuss auf die Wange von ihr. Während ihr Tränen in den Augen standen, murmelte sie leise: „Allah möge dich behüten, meine Freundin. Langes Leben und Glück."
„Dir auch", erwiderte Chloe.
Freshta sah Wade an. „Passen Sie gut auf sie auf."
Woher der Impuls kam, vermochte Wade nicht zu sagen, auf jeden Fall legte er eine Hand auf sein Herz und verbeugte sich, womit er eine Geste machte, die er im Nahen und Mittleren Osten oft beobachtet hatte, bei der er aber nicht daran gedacht hätte, sie nachzuahmen. In diesem Moment schien es das einzig Richtige zu sein.
Freshta lächelte so strahlend, dass er es sogar durch den Netzeinsatz sehen konnte, dann wirbelte sie herum und eilte zu dem Lastwagen. Kemal half ihr ins Führerhaus, vermutlich, weil es mit etwas Hilfe schneller ging - und weil er wohl den Fensterplatz haben wollte, da er den Arm aus dem Fenster baumeln ließ, nachdem er die Tür zugeschlagen hatte. Dann gab der Fahrer Gas und lenkte den schweren Laster in Richtung Azad-Pass.
Wade sah die Frau an, die neben ihm stand. Sie erwiderte seinen Blick, doch ihr Ausdruck war beim besten Willen nicht zu deuten.
Da stand er also, Wade Benedict, mitten in einem fremden Land, ohne Plan, ohne Beförderungsmittel und ohne eine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte. Die Verletzung hatte ihn so geschwächt, dass er schätzte, nur über etwa siebzig Prozent seiner normalen Kraft zu verfügen. Er besaß eine einzige Waffe und nur wenig Munition, und er saß mit einer Frau fest, die ihn als ihre Verantwortung betrachtete, obwohl sie am liebsten ganz woanders gewesen wäre. Die Nacht brach über sie herein, und der einzige Schutz war für sie ein fahruntüchtiger Kombi, der in der Dunkelheit jeden Dieb im näheren Umkreis anlocken würde.
Zu alledem kam, dass er befürchtete, den Verstand zu verlieren. Denn das, was er in seinem Inneren fühlte, war weder Verzweiflung noch Sorge, sondern eine alles mit sich reißende Welle reinen Glücks.
Bei Gott, wie glücklich er doch war.
9. KAPITEL
„Was ist denn so witzig?" wollte Chloe wissen.
„Nichts, überhaupt nichts." Das Lächeln, das Wades Lippen umspielt hatte, verschwand. Er wandte sich von ihr ab und betrachtete die dunkler werdenden Umrisse der Hügel und die gezackte Linie des Hindukusch dahinter.
Sie wünschte, sie wäre nicht so gereizt. Es war nicht sein Fehler, dass alles so entsetzlich schief gegangen war oder dass sie sich einsam und verlassen vorkam. Natürlich wäre das alles nie geschehen, wenn er gar nicht erst hergekommen wäre oder wenn er sie in Ruhe gelassen hätte, als sie ihn darum gebeten hatte.
Freshta und Ayla waren sich sicher, dass das Schicksal diese Abfolge von Ereignissen in Gang gesetzt hatte. Chloe wünschte, sie könnte das auch glauben, doch für sie schien vielmehr Wade Benedict alles ausgelöst zu haben.
Abrupt ging er mit großen Schritten zum Heck des Kombis. Er öffnete die Klappe und begann zu suchen. Das Erste, was ihm in die Hände fiel, war ein Beutel, der aus Teppichresten zusammengenäht worden war und in dem sich dem metallischen Klappern nach zu urteilen Werkzeuge oder Kochutensilien befinden mussten. Dann förderte er einen Gebetsteppich und eine fleckige Wolldecke zutage. Beides rollte er zusammen und gab es Chloe.
Sie nahm die Dinge und steckte die Videokassette an ein Ende zwischen Decke und Teppich. Sie rümpfte die Nase, als ihr aus der
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