Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind
Entweder verstand er nicht, was sie wollte, oder er ignorierte sie vorsätzlich, da er sich wieder dem Kind zuwandte und ihm etwas von der Nahrung hinhielt.
Die Kleine sah ihre Mutter an, die den Blick abgewendet hatte. Sie schaute zu ihrem Vater, dann zu Chloe. Und schließlich näherte sie sich ganz langsam Wade. Von einer Angst erfüllt, die man eher von einer Maus in der Falle erwartet hätte, streckte sie dann ihre Fingerspitzen nach dem Nusskern aus, packte ihn und steckte ihn sofort in den Mund. Ihr kleines Gesicht strahlte, als wäre gerade die Sonne an einem wunderbaren Morgen aufgegangen. Sie streckte wieder die Hände aus, weil sie mehr haben wollte, und Wade schüttete vorsichtig das Häufchen in ihre Handflächen.
Chloe musste lächeln, als sie das Schauspiel beobachtete. Sie sah zu Wade und konnte mit einem Mal nicht mehr den Blick von ihm lösen. Seine markanten Gesichtszüge strahlten eine solche Wärme, eine so völlige Zufriedenheit aus, dass sie eine unglaubliche Sehnsucht verspürte. Sie hatte nicht gewusst, dass die Miene eines Mannes einen solchen Ausdruck annehmen konnte, nur weil er das Vertrauen eines Kindes gewonnen hatte. Dass er so etwas wie Liebe für ein kleines Mädchen empfinden konnte, das er noch nie gesehen hatte und dem er nach dieser Nacht vermutlich niemals wieder begegnen würde. Dass er völlig selbstlos geben konnte, dass er bereit war, selbst zu hungern, damit ein Kind satt werden konnte, das er gar nicht kannte.
Chloe warf dem Vater einen raschen Blick zu: „Es tut mir Leid. Er ist Amerikaner, wie Sie selbst bemerkt haben. Er kennt sich mit unseren Gebräuchen nicht aus."
Der Usbeke nickte ernst, während er seine Tochter ansah. „Ich bin nicht beleidigt. Es war eine gute Tat."
Aus dem Augenwinkel nahm Chloe den Bruder des Mädchens wahr, der kaum ein Jahr älter sein mochte. Er gab keinen Laut von sich, doch ihm stand deutlich ins Gesicht geschrieben, was ihm durch den Kopf ging. Chloe griff hinter sich, nahm den Beutel und holte eine weitere Hand voll Nüsse und Trockenfrüchte heraus, die sie dem Jungen mit einem ermunternden Lächeln hinhielt. Er war deutlich mutiger als seine Schwester, oder er hatte von dem gelernt, was er bei ihr beobachtet hatte. Sofort nahm er das Angebotene und ging zurück, bis er sich neben seinen Vater setzen konnte. Er begann zu essen und war bereits fertig, als seine Schwester erst die Hälfte verzehrt hatte. Auch wenn er sehnsüchtig auf das sah, was sie noch hatte, ließ er sie in Ruhe.
Chloe nickte ihm zu und bemerkte, wie ein flüchtiges, müdes Lächeln über das Gesicht des Jungen huschte. Dann rief sie sich in Erinnerung, was die guten Manieren von ihr verlangten, und reichte den Beutel mit dem noch verbliebenen Inhalt dem männlichen Gast. Sie wandte sich sofort von ihm ab und befasste sich damit, die Falten in ihrer Burqa, die sie wieder angezogen hatte, zu glätten, damit er sich ungestört mit ihrer Gabe befassen konnte.
Eine vage Vorstellung, die sie warm durchflutete, brachte Chloe dazu, dort hinzusehen, wo Wade noch immer vor dem Feuer kniete. Die Ehrfurcht, die sie in seinen Augen bemerkte, und die sinnliche Glut ließen sie schlagartig erröten, während sie bedauernd den Kopf schüttelte, da sie ihren einzigen Reiseproviant hergegeben hatte.
Die Usbekin, die sich neben ihren Mann gehockt hatte, um sich mit ihm die Trockennahrung zu teilen, fasste ihn am Ärmel und zog ihn zu sich, damit sie ihm etwas ins Ohr flüstern konnte. Der Mann nickte und machte ein ernstes Gesicht. An Wade gerichtet, aber Chloe in seine Äußerungen einbeziehend, setzte er zum Reden an: „Meine Frau bittet mich, Ihnen zu sagen, dass sie glaubt, der Wille Allahs habe uns zu Ihrem Lager geführt. Sie haben uns und unseren Kindern gegenüber Gastfreundschaft walten lassen, für die wir Sie immer loben werden. Doch es gibt da eine Sache, die wir Ihnen im Gegenzug berichten könnten. Möchten Sie sie hören?"
„Sehr gerne, Reisender", erwiderte Chloe mit einem Gefühl der Beklemmung. Auf Wades fragenden Blick hin gab sie ihm in groben Zügen das wieder, was der Mann gesagt hatte.
„Es hat sich folgendermaßen zugetragen. Der Lederhändler unterhielt sich auf der Fahrt mit uns. Er sagte, er habe einen großen Aufruhr an der Grenze mitbekommen, als er sie vor zwei Tagen überquerte. Angehörige der Taliban sorgten für erhebliche Verzögerungen, weil sie nach zwei Personen suchten, von denen man erwartete, dass sie versuchen würden, die Grenze
Weitere Kostenlose Bücher