Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind
uns ans Feuer."
Sie kamen ein Stück weiter in den Lichtschein. Der Blick des Mannes ruhte für einen kurzen Moment auf der Blechkanne, in der sie den Tee aufgebrüht hatten, doch er antwortete höflich: „Wir möchten nicht aufdringlich erscheinen."
Chloe sah wieder Wade an, dessen Aufgabe es war, sich um diese Menschen zu kümmern, da er sie zu ihrem Lager geführt hatte. Er stand da und runzelte die Stirn, als könnte er nicht ganz dem folgen, was gesprochen wurde. Möglicherweise war das auch der Fall, da der Mann Pashtu mit einem schweren Akzent sprach, durch den man ihn nur mit Mühe verstehen konnte. Da Wade diese Leute aber mitgebracht hatte, musste sie davon ausgehen, dass er sich als ihr Gastgeber verstehen wollte.
„Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen etwas Tee anbiete", sagte sie zu ihren Gästen und goss Wasser in die Blechkanne, die sie dann zum Erhitzen auf einen flachen Stein stellte, der sich gleich neben den glühenden Kohlen befand.
Der Mann fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, ohne den Blick von dem Wasserbehälter zu nehmen. „Sie sind wirklich sehr freundlich."
Sie deutete auf einen Platz nahe dem Feuer. „Sie können sich ruhig setzen. Möchten Sie und Ihre Familie etwas Wasser trinken?" Sie wischte den Rand ihres Bechers gründlich ab, schenkte ein und bot ihn in beiden Händen haltend an.
Der Mann nahm ihn entgegen und nippte daran, als trinke er aus reiner Höflichkeit. Chloe konnte ihm aber ansehen, wie sehr er sich zwingen musste, den Becher wieder von seinen Lippen zu nehmen. Er drehte sich um und reichte ihn seiner Frau weiter, die ebenfalls nur einen kleinen Schluck nahm und ihn dann den Kindern gab - erst dem Jungen, dann dem Mädchen.
„Würden Sie uns erzählen, warum Sie unterwegs sind und was das Ziel Ihrer Reise ist?" fragte Chloe, nahm den Becher zurück und füllte ihn bewusst beiläufig wieder auf, damit sie ihn ein weiteres Mal herumreichen konnte.
Er hatte einen Bauernhof in der Nähe eines winzigen Dorfs besessen, erklärte der Mann, wo seine Vorfahren seit undenklichen Zeiten gelebt hatten. Doch die Oppositionskräfte hatten ihm seine Schafe und Ziegen gestohlen. Die Taliban hatten dann seine Felder in Brand gesteckt, um ihn zu bestrafen, weil er sich sein Vieh hatte stehlen lassen. Auch sein Haus hatten sie niedergebrannt, und er konnte froh sein, dass er und seine Familie noch lebten. Er hatte die Ruinen hinter sich zurückgelassen, um seine Kinder zu retten, und befand sich nun eigentlich auf dem Weg in ein Flüchtlingslager. Doch am Nachmittag hatten sie nach der Überquerung der Grenze mit anderen Reisenden gesprochen und erfahren, dass es in den Lagern nichts zu essen gab. Sie hatten ihm erzählt, dass Hilfsorganisationen gekommen waren, um verhungernde Kinder zu filmen. Dann waren sie wieder abgereist, doch die Spenden hatten sie selbst in die Tasche gesteckt, und nun starben die Menschen, ohne dass jemand etwas dagegen unternahm. Wohin er sich nun begeben sollte, wusste er nicht.
Wade hockte sich neben Chloe und fragte mit gesenkter Stimme: „Was hat er gesagt?"
Sie erklärte es, ohne ein Detail auszulassen. Er hörte zu und nickte hin und wieder, dann sagte er: „Von der Grenze bis hierher ist es ein langer Weg, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Vor allem, wenn man auch noch zwei Kinder dabeihat. Frag ihn, wie er es so schnell bis hierher geschafft hat, wenn sie erst vor wenigen Stunden die Grenze überquert haben."
Chloe tat, worum er sie gebeten hatte, und hörte sich dann die Antwort an. „Er sagt, sie wurden von einem Lederhändler mitgenommen, der in Kashi arbeitet, dessen zweite Ehefrau Pakistani ist und die in einem Dorf hier in der Nähe lebt. Darum fährt er mehrmals pro Woche hin und her. Er hat sie da abgesetzt, wo er von der Hauptstraße abbiegen muss."
Wade nickte verstehend, während sein Blick dem kleinen Mädchen galt, dessen Haar bis zur Taille reichte und das unglaublich große Augen hatte. Das Kind starrte auf die Nüsse und getrockneten Früchte, die Wade auf dem Teppich hatte liegen lassen. Die Kleine bewegte sich zentimeterweise vor, als würde sie von der Nahrung magnetisch angezogen.
Wade beugte sich vor und griff nach dem Essen. Das Mädchen wich sofort erschrocken zurück und drückte sich an die Mutter. Wade hielt inne, dann nahm er einen Nusskern und hielt ihn dem Kind hin.
„Nein", sagte Chloe. Als Wade sie ansah, ließ sie ihn mit ihren Blicken wissen, dass zuerst dem Vater etwas zu essen angeboten werden musste.
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