Der Benedict Clan 05 - Fremder Feind
dachte, er wäre sofort bei Tagesanbruch nach Turn-Coupe gefahren."
„Er hat in den letzten Tagen eine Menge mitgemacht", erklärte sie. Sofort war sie irritiert, dass sie den Impuls verspürt hatte, ihn zu verteidigen.
„Nicht nur in den letzten Tagen", sagte Nat und starrte in seine Kaffeetasse. „Ich nehme nicht an, dass er Ihnen von dem Zwischenfall in Saudi-Arabien erzählt hat, oder?"
„Die Frau des Ölbarons?"
Er nickte. „Sie hat ihm ganz schön was eingebrockt, auch wenn sie das wohl nicht absichtlich gemacht hat. Das ist dieser verdammte Ehrenkodex, von dem ich vorhin sprach. Der macht einen Mann für alles verantwortlich, was schief geht. Da bleibt nicht viel Raum für Fehlschläge."
„Oder Vergebung?"
„Wenn Sie meinen, dass er sich selbst nicht vergeben kann, dann haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen."
Er betrachtete sie eindringlich, doch Chloe konnte sich nicht vorstellen, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Es konnte einfach alles sein, von Ungewissheit darüber, wie viel sie wirklich verstand, da sie Wade erst vor kurzem kennen gelernt hatte, bis hin zur Frage, ob es ratsam war, sich mit ihr überhaupt zu unterhalten. „Man kann ihm ja wohl kaum die Schuld geben, nur weil er nicht durchschaut hat, dass dieser Mann seine Frau aus dem Weg räumen wollte."
„Das ist es ja. Wade glaubt, er hätte es durchschauen müssen. Er meint, die Zeichen wären zu sehen gewesen, wenn er sie bloß erkannt hätte. Das Problem war, dass er aus einer Familie kommt, in der es undenkbar ist, jemanden zu verletzen, den man eigentlich lieben soll - ganz zu schweigen davon, denjenigen umzubringen. Meine Güte, sogar eine Lüge verstieß gegen den Ehrenkodex. Ihm ist einfach nie in den Sinn gekommen, dass ein Mann mit allem Geld der Welt und einer Schar findiger
Anwälte lieber seine untreue Frau ermorden lässt, anstatt sich von ihr scheiden zu lassen."
„Wollen Sie damit sagen, dass er naiv war?"
„War ist die entscheidende Formulierung. Er ist sehr schnell erwachsen geworden. Diese Maßstäbe sind trotzdem noch immer da und finden nach wie vor Anwendung, vor allem bei Frauen."
„Mag sein, dass ich mich irre, aber nach dem, was Wade im Fieber gesprochen hat, besteht irgendein Zusammenhang zwischen diesem Vorfall und einer Sache zwischen seinen eigenen Eltern."
„Ja und nein, um es mal so auszudrücken. Scheidungen sind bei den Benedicts offenbar nicht an der Tagesordnung. Und wenn es dazu kommt, dann ist es auch gleich eine große Angelegenheit. Wades alter Herr war ziemlich am Boden zerstört, als seine Frau ihn verließ - und das galt auch für Wade und seine Brüder. Soweit ich weiß, stellte sich Wade auf die Seite seiner Mutter. Er und sein Vater müssen sich sehr heftig über den Grund gestritten haben, warum sie wegging. In einer Familie, in der nur selten was im Zorn gesagt wird, vergisst und vergibt man so etwas nicht so schnell."
„Sie meinen damit seinen Vater, oder?"
„Beide. Jeder in diesem Clan kann ein unglaublicher Starrkopf sein, wenn er meint, dass er im Recht ist."
„Das kann ich mir vorstellen", sagte Chloe emotionslos. Es war nicht schwer, Wades Einstellung dazu, was sie in kleinen Dingen tun und lassen sollte, auf größere und schwerwiegendere Angelegenheiten zu übertragen.
„Natürlich schien sein alter Herr mit allen möglichen schlechten Eigenschaften gesegnet zu sein. Er war stur, intolerant, arrogant, hatte unverrückbare Ansichten in Sachen Arbeit und Frauen, er war davon überzeugt, dass Gott ihn auf die Erde geschickt hatte, damit er anderen Leuten sagen konnte, was sie zu tun hatten. Es ist schon ein Wunder, dass das nicht stärker auf Wade und seine Brüder abgefärbt hat. Ich vermute, das ist dem Einfluss seiner Mutter zu verdanken. Sie scheint es in Sachen Toleranz schon ein wenig zu übertreiben, aber dadurch wurde alles etwas ausgewogener."
„Trotzdem hat Wade seinen Vater geliebt. Jedenfalls muss ich das annehmen, da er so sehr bedauert, nicht da gewesen zu sein, als er starb."
Nat sah sie aufmerksam an. „Hat er das gesagt?"
„Nicht in diesen Worten, aber ich leite das aus den wenigen Dingen ab, die er erzählt hat."
„Ja, ich glaube, Schuldgefühle sind das Problem. Scheint so, als hätten sie sich über viele Dinge gestritten, auch darüber, ob Wade so wie der restliche Clan in Louisiana bleiben oder ob er in die Welt hinausziehen sollte. Einige Zeit hat Wade mit seinem Vater kein Wort gesprochen. Seine Brüder bekam er jahrelang nicht
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