Der Benedict Clan - Zwischen Hoffen und Bangen
„Du verstehst mich nicht.“
„Ich denke schon“, widersprach er bedächtig. „Aber was ist mit mir und dem, was ich denke? Ich bin ihr Onkel. Spielt das überhaupt keine Rolle?“
„Du kennst sie doch kaum.“
„Ich bin seit Tagen mit ihr zusammen. Ich habe sie gehalten, mit ihr geredet, ich habe beobachtet, wie sich ihr Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitet. Sie gehört zur Familie, durch ihre Adern fließt Benedictblut. Die Familie bedeutet einem Benedict alles. Aber du kannst nicht ein Leben mit einem anderen erkaufen, Janna. Es ist ein Pakt mit dem Teufel, der alles beschmutzt und die Seele tötet. All das wird dich zerstören, und deine Tochter auch.“
Sie schluckte schwer. „Ich habe keine andere Wahl.“
„Und was wirst du Lainey sagen, wenn sie dich eines Tages fragt, wer die Person ist, der sie ihr Leben zu verdanken hat? Was wirst du dir selbst einreden, wenn du alles wie geplant durchziehst und sie trotzdem stirbt? Wie wirst du damit leben können?“
Bei seinen Worten litt sie Folterqualen, die ihr den Appetit und den Atem verschlugen. Er war so erbarmungslos in seinem Zorn und seiner Ehrenhaftigkeit, und er hatte so schrecklich Recht.
Sie schob ihr Glas weg, dann glitt sie vom Stuhl und sagte, ohne ihn anzuschauen: „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht mehr, was das Beste oder das Schlechteste ist, was moralisch ist oder unmoralisch, ja nicht einmal, was grausam und selbstsüchtig ist. Ich weiß nur, dass ich es nicht ertragen kann, nichts zu tun.“
„Andere müssen auch eine Wahl treffen, Janna“, sagte er nach einem Moment. „Manchmal tut man, was man tun muss.“
Sie antwortete nicht, weil sie sich nicht sicher war, ob er von ihr oder von sich selbst sprach. Hatte er es ihr nachgerufen, oder war er aufgestanden, um ihr zu folgen? Sie dachte, dass er beides getan haben könnte, aber sie war sich nicht sicher. Mit hoch erhobenem Kopf und geradem Rücken verließ sie die Küche und blieb nicht stehen, bis sich die Tür des Zimmers, das er ihr zur Verfügung gestellt hatte, hinter ihr geschlossen hatte.
Im Zimmer war es dunkel, aber sie machte kein Licht. Sie ließ sich auf das Bett niedersinken und stützte den Kopf in die Hände. Ihr tat alles weh, als ob jemand sie geschlagen hätte. Obwohl sich ihr Kopf leer anfühlte, lauerte etwas Dunkles und Unerträgliches in den Ecken.
Es war still, zu still. Das alte Haus, das frühere Zuhause von Laineys Vater, schien sie zu erdrücken. Es lastete schwer auf ihr, mit seinen Traditionen, den hohen moralischen Maßstäben und Erwartungen. Es bewirkte, dass sie sich ihrer selbst, ihrer eigenen Wertmaßstäbe plötzlich nicht mehr sicher war. Dass ihre gesamte Verteidigungsstrategie, bei der sie sich darauf berufen hatte, dass es im Leben und in der Moral nicht immer eindeutig zuging, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und ihr töricht, wenn nicht gar unaufrichtig vorkam. Und es schien sie zu zwingen, ihr eigenes Handeln infrage zu stellen.
Wenn sie so weitermachte wie bisher, würde sie das Leben ihrer Tochter gegen das Leben eines anderen Kindes eintauschen. Sie würde einen jungen unschuldigen Menschen zum Tod verurteilen und seine Mutter zu ewiger Trauer.
Das konnte sie nicht tun.
Vielleicht wäre es ihr ja wirklich irgendwann gelungen, sich einzureden, dass die beiden toten Jugendlichen im Sumpf nichts mit ihr zu tun hatten, dass man sie, Janna, nicht für etwas verantwortlich machen konnte, was andere taten, oder dass ihre Bedürfnisse wichtiger als alles andere waren. Aber das war jetzt unmöglich geworden. Nun sah sie sich gezwungen, die Tatsache zu akzeptieren, dass sie Lainey nicht wirklich würde helfen können, wenn sie etwas so Verwerfliches tat. Sie konnte ihrer Tochter nicht den Becher mit diesem ach so bitteren Trank vom Mund reißen, um ihn an jemand anders weiterzureichen.
Genauso wenig konnte sie es zulassen, dass Clay in ihre dunklen Machenschaften verwickelt oder womöglich sogar noch in Gefahr gebracht wurde. Das hatte er nicht verdient, egal, was für Absichten er hatte. Und das Letzte, was sie wollte, war eine Wiederholung der Schießerei heute Abend. Beim nächsten Mal hätten sie vielleicht nicht mehr so viel Glück.
Sie musste ihr ganzes Vertrauen in Clay setzen und die Operation absagen. Deshalb würde sie morgen zu Dr. Gower fahren und genau dies tun. Sie würde ihm sagen, dass sie das zusätzliche Geld nicht aufbringen konnte, dass ihr die ganze Sache zu gefährlich wurde, dass Lainey zu krank war
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