Der Berg der Sehnsucht: Big Sky Mountain (German Edition)
dieses Haus zum ersten Mal betreten hatte, war sie noch ein kleines, von Ehrfurcht erfülltes Mädchen gewesen, kurz zuvor auf der Veranda eines heruntergekommenen Trailers ausgesetzt, der auf der falschen Seite des Lebens stand. Joslyn war diejenige gewesen, die mit ihrer Mom Dana, ihrem Stiefvater Elliot und natürlich mit Opal hier gelebt hatte.
Auf Kendra hatte dieser Ort insbesondere zu Weihnachten wie ein Schloss gewirkt, und Joslyn war die Prinzessin gewesen. Als Kind und Jugendliche hatten die Dimensionen dieses Bauwerks sie immer wieder aufs Neue fasziniert. Hier gab es nicht nur Schlaf-, Ess- oder Badezimmer, wie man sie - zumindest dem Namen nach, wenn auch in wesentlich kleineren Abmessungen - in jedem normalen Haus vorfand, sondern es gab Räume, in denen nur Pflanzen gezüchtet oder Karten gespielt oder ferngesehen wurde. Zimmer, in denen man nur Bücher las oder nur die Hausarbeit erledigte oder in denen man sich einfach nur … hinsetzte , um dort zu sitzen. Im Trailer ihrer Großmutter hatte es natürlich Schränke gegeben, hier jedoch waren diese Schränke so groß wie ganze Zimmer, und man konnte sie betreten. Hier gab es Glasvitrinen für Schuhe und Handtaschen, und wo man auch hinschaute, überall fand man ein Badezimmer. Außerdem gab es diesen einen Raum, der um ein Vielfaches größer war als das, was sich im Trailer ihrer Großmutter Wohnzimmer nannte - ein Raum, der nur dazu diente, Geschenke einzupacken und mit kunstvollen Schleifen, kleinen Anhängern und glitzernden künstlichen Blumen zu verzieren.
Für ein Kind, dem ein paar Dollar in die Hand gedrückt wurden, damit es seine eigenen Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke kaufen konnte, war allein der Gedanke an etwas so Erlesenes so fantastisch, dass es eigentlich gar nicht wahr sein durfte.
Doch nachdem Kendra selbst Herrin über diesen monströsen Palast geworden war, hatte sie schon bald erkennen müssen, dass sie eigentlich weder das Gebäude noch den damit verbundenen Luxus hatte haben wollen.
Vielmehr war es die Familie gewesen, die hier gelebt hatte, das Gefühl, einen Platz inmitten anderer Menschen zu haben, Teil von etwas Größerem zu sein. Das hatte sie haben wollen.
Für einen außenstehenden Betrachter mochte es so ausgesehen haben, dass Joslyn in jener Zeit hier glücklich gewesen war, dass sie ein traumhaftes Leben geführt hatte. Doch dann sollte ein Skandal ans Tageslicht kommen, der alles zerstörte und nur Ruinen hinterließ.
Vor dem finanziellen Niedergang ihres Stiefvaters, der dadurch ausgelöst worden war, dass er Freunde und Fremde gleichermaßen um ihr Geld betrogen hatte, da hatte es Joslyn an nichts gefehlt. Aber auch wenn manche Leute sie darum beneidet und sie für verwöhnt und selbstverliebt gehalten hatten, hatte Kendra da längst eine ganz andere Seite an Joslyn kennengelernt: Joslyn hatte mit Kendra mitgefühlt, weil sie mit völlig anderen Lebensbedingungen zurechtkommen musste, aber sie hatte sie nie mitleidig oder gönnerhaft behandelt. Es war für sie ganz selbstverständlich gewesen, ihr Spielzeug und später auch ihre wunderschöne Kleidung mit ihr zu teilen.
Viel wichtiger aber war gewesen, dass sie auch ihre Mom, Opal und den kleinen Cockerspaniel Spunky mit ihr geteilt hatte. Ihr Stiefvater Elliot Rossiter war immer mal kurz daheim gewesen, ein witziger, netter und großzügiger Mann, der sich aber stets bald wieder um seine Geschäfte hatte kümmern müssen.
Geschäfte, die darin bestanden, andere Leute um ihr Geld zu erleichtern, wie sich später herausstellen sollte.
Als Erwachsene hatte Kendra dann gehofft, zusammen mit Jeffrey wenigstens einen Teil ihrer eigenen Träume zu verwirklichen - nämlich die Gründung einer Familie. Auf Umwegen war ihr das dann sogar gelungen, denn sie hatte jetzt Madison.
„Hallo?“ Eine Stimme riss Kendra aus ihren Gedanken und ließ sie zusammenzucken, obwohl sie gewusst hatte, sie war nicht allein im Haus. Die Wagen der Maler und der Reinigungsfirma in der Auffahrt waren ein nicht zu übersehender Hinweis gewesen.
Charlie Duke von Duke‘s Painting and Construction stand vor ihr, er trug einen Overall, der mit Farbspritzern übersät war, und wischte sich eben die Hände an einem Lappen ab. Er grinste Kendra an, sodass sie die Lücke zwischen den Schneidezähnen sehen konnte.
„Morgen, Ms Shepherd“, sagte er. „Wollen Sie sich ansehen, wie die Arbeiten vorankommen?“
Kendra lächelte. „Kann man so sagen“, erwiderte sie. Sie kannte
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