Der Berg der Sehnsucht: Big Sky Mountain (German Edition)

Charlie und seine Frau Tina schon seit Jahren, und wenn man sich auf der Post oder im Supermarkt begegnete, dann wurde sie von beiden mit „Kendra“ angesprochen. Aber die Dukes waren auch ein wenig altmodisch, und wenn Charlie im Dienst war, dann waren alle Unterhaltungen so förmlich, dass aus Kendra auf einmal „Ms Shepherd“ wurde.
    „Mit dem großen Salon sind wir fast fertig“, ließ Charlie sie stolz wissen und ging vor ihr her durch den Flur. Er trug einen Schutzüberzug über seinen Arbeitsschuhen, und in seinem T-Shirt klaffte in Höhe der rechten Schulter ein Loch, das vom Träger seines Overalls nur teilweise verdeckt wurde.
    Kendra folgte ihm und kam sich vor, als würde sie sich in irgendeinem fernen Land einen prachtvollen Wohnsitz ansehen. Es war fast so, als hätte sie dieses Haus noch nie zuvor gesehen, was einerseits verrückt war, andererseits aber ihrer kühlen, distanzierten Stimmung entsprach.
    Der Salon war ihr Büro und zugleich der Empfangsbereich von Shepherd Real Estate gewesen, und alle Möbel, die sie nicht in das Ladenlokal mitgenommen hatte, standen noch an ihrem angestammten Platz, nur dass sie jetzt unter großen Tüchern aus weißem Leinen verschwunden waren. Das blasse Rosé der Wände war dem Farbton von Eierschalen gewichen, da angeblich neutrale Farben ein Muss waren, wenn ein Haus zum Verkauf angeboten wurde. Die Hoffnung war dabei, dass man so ein breiteres Spektrum an möglichen Kaufinteressenten ansprechen konnte.
    Kendra nahm eine zügige Besichtigung des Hauses vor, was kein so einfaches Unterfangen war bei einem Gebäude von solchen Ausmaßen. Sie grüßte die beiden Söhne von Charlie, die die Küche in einem sehr blassen Gelb strichen, und etliche Mitarbeiter der Reinigungsfirma, von denen manche hoch oben auf einer Leiter standen und die hohen Fenster putzten. Dann kehrte sie zurück zu ihrem Wagen, wo Daisy auf dem Beifahrersitz saß und geduldig auf sie wartete. Madison hatte sie auf dem Weg hierher schon an der Tagesstätte abgesetzt, als nächster Halt war Kendras neues Büro vorgesehen.
    Als sie dort ankam, stellte sie den Wagen ab und ging mit Daisy noch rasch Gassi, um dann durch den Hintereingang das Ladenlokal zu betreten. Die Hündin begann sofort, jeden Winkel zu erkunden, denn auch wenn sie schon mal hier gewesen war, bestand ja durchaus die Möglichkeit, dass sich seit dem letzten Mal irgendetwas Bedeutsames verändert hatte. Während Kendra ihren Computer hochfuhr, die Ladentür aufschloss und das Offen/Geschlossen-Schild umdrehte, schnupperte Daisy an künstlichen Pflanzen, Aktenschränken und Fensterbänken.
    Kendra stand in der winzigen Küche, die einen Teil des Vorratsraums ausmachte, und hatte soeben Wasser in die Kaffeemaschine gegossen, um sich einen Kaffee aufzubrühen, da hörte sie, wie jemand das Geschäft betrat. Als Daisy dann auch noch leise zu knurren begann, kam Kendra sofort nach vorn geeilt, um nach dem Rechten zu sehen.
    An der Tür stand ein ausgesprochen gut aussehender Mann in der für Parable typischen Kleidung, bestehend aus Jeans, Hemd, Stiefeln und Hut. Er zog seinen Hut, nickte Kendra höflich zu und grinste Daisy an, die inzwischen entschieden hatte, dass er doch keine Bedrohung darstellte. Das Knurren hatte sie schnell wieder eingestellt, stattdessen stieß sie mit der Nase die Hand an, die der Mann ihr zum Beschnuppern hinhielt.
    Es dauerte einen Moment, ehe Kendra den Mann zuordnen konnte. Er war kein Fremder, aber er lebte auch nicht unmittelbar in Parable. Natürlich konnten Leute von anderswo nach Parable umgezogen sein, während sie auf Reisen gewesen war, doch das kam ihr nicht sehr wahrscheinlich vor. Schließlich musste sie in ihrem Beruf wissen, was in der Gemeinschaft los war, wer herzog, wer von hier wegzog, und durch Joslyn war sie auch in der Zeit immer auf dem Laufenden gewesen, als sie sich nicht in Parable aufgehalten hatte.
    Im nächsten Moment erkannte sie ihn dann endlich. Sein Name war Walker Parrish, ein wohlhabender Rancher aus der Nähe von Three Trees. Neben dem Vieh, das geschlachtet wurde und ihm mit dem Fleisch viel Geld einbrachte, züchtete er auch noch Bullen und halbwilde Pferde für Rodeos.
    Und dann war er ja auch noch der Bruder von Brylee Parrish, der Beinahe-Braut, die das jüngste Opfer des Serienherzensbrechers Hutch geworden war. Ein wenig verunsichert fragte sich Kendra, ob er möglicherweise glaubte, sie könnte etwas damit zu tun gehabt haben, dass Hutch in buchstäblich