Der Bernstein-Mensch
Tokio in die Luft jagen?“
„Das hat mit dem Orb nichts zu tun.“
„Das ist Ihr Ende. Wissen Sie das?“
„Tom, scheren Sie sich raus.“
Bradley gab Tom Rawlins noch drei Minuten, nachdem er die Tür hinter sich zugeschlagen hatte, und erhob sich dann von seinem Schreibtisch. Er warf einen prüfenden Blick durch den Korridor, bevor er ging. Als er die Flugüberwachung betrat, fand er Leigh Duffy, eine Biophysikerin, die gerade Dienst hatte.
„Können Sie Tsubatas Shuttle erreichen?“ fragte er sie. „Ich will mit ihm reden.“
„Und mit Mara?“ Die Frau lächelte.
„Auch dieser Gedanke ist mir gekommen.“
4
Tsubata wendete das Shuttle. Der soeben reparierte Satellit glitt im Bogen hinter sie. Mara wandte den Blick wieder auf den Jupiter und seufzte.
„Hast du etwas dagegen, wenn ich schlafe?“ fragte Tsubata neben ihr.
„Etwas dagegen? Nein.“
„Ich dachte, daß es dich vielleicht stört.“
„Ganz im Gegenteil.“
„Ich kannte einmal einen sehr brillianten Mann, als ich noch jung war. Außer dir, und bis ich dich traf, war er der einzige, den ich kannte. Ich dachte, du wärest vielleicht wie er.“
Jupiters Oblatenform füllte ihren Gesichtskreis aus wie die runde Taille eines plumpen, zufriedenen Riesen. Die wilden elektrischen Stürme der letzten Wochen wirbelten die gefleckten Bänder durcheinander, und das nördliche Polargebiet wogte in fürchterlicher Wut. Genau wie ich, dachte sie. Weder Vater Jupiter noch ich können jemals ganz zur Ruhe kommen. „Ich verstehe nicht, Kurt.“
„Er war seltsam. Weißt du, er war Professor an der Universität und ich war nur ein durchschnittlicher Student. Er kam oft in mein Zimmer. Dann haben wir den ganzen Tag und manchmal die ganze Nacht geredet. Das heißt, ich eigentlich selten. Nur er. Er hat geredet und geredet und geredet. Über jedes denkbare Thema und stundenlang. Und dann, plötzlich, stand er auf und schrie.“
„Ja?“
Tsubata lachte. „Er hatte seine Antwort. Immer wenn er ein Problem hatte, kam er zu mir. Und wenn er redete, fand sich irgendwie die Lösung. Ich weiß nicht, wie. Aber es funktionierte.“
„Schlafwandler. Einstein war auch einer. Ich schlafe besser allein.“
„Entschuldige.“
„Nein“, korrigierte sie hastig, „das meinte ich nicht. Danke, Kurt. Dafür daß du gefragt hast, meine ich. Das war sehr rücksichtsvoll.“
„Ich dachte, es wäre vielleicht wichtig.“
„Ja. Danke.“
Er schlief ein.
Jupiter tanzte und wirbelte. Die Sterne glitzerten ungehindert. Sie war immer allein gewesen. Nach ihrer Geburt hatte man ein Ehepaar ausgesucht, um sie großzuziehen. Sie waren dumm gewesen, und ihr Sohn, der vier Jahre älter war als sie, hatte ihr das Leben zur Qual gemacht. Einmal hatte er einen Frosch in ihren ersten Büstenhalter gesteckt. Das klang wie eine warme, lustige Kindheitserinnerung, aber sie hatte ihn dafür gehaßt. Von dem Mann hatte sie nur noch hohe, buschige Augenbrauen in Erinnerung, grau gesprenkelt, und er hatte geredet wie eine Nähmaschine. Ein Biologe, ein Lehrer, Kandidat für den Nobelpreis. Die Frau hatte unaufhörlich gesprochen, von Angst geplagt. Mara lernte frühzeitig, daß sie Schrecken hervorrufen konnte, aber Angst erzeugte Haß, und mit vierzehn ging sie fort. Sie sah ihre Eltern und ihren Bruder nie mehr wieder. Danach gab es niemanden mehr. Mit achtzehn ließ sie die Welt wissen, daß sie jetzt eine eigenständige Person sei, und ließ sich von niemandem mehr bestimmen. Jupiter wälzte sich stöhnend um seine Achse. Sie studierte die wechselnden Bilder. Ein Photo läßt das Leben gefrieren, das Auge läßt es fließen. Irgendein gesichtsloser Mann nahm ihr die Jungfräulichkeit. Sie nahm Drogen, schlief mit anderen Frauen, spielte,
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