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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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hinaufgewandert und hatte sich auf dem Heidekrautpolster niedergelassen, das den Hügel dort bedeckte. In der einen Richtung konnte er die Dächer von Shipcott sehen, ansonsten jedoch gab es keinerlei Anzeichen von Zivilisation  – oder irgendeinen Hinweis darauf, dass die Zivilisation jemals erfunden worden war.
    Jetzt musste er daran denken, wie die Sonne seine Augen durch die geschlossenen Lider hindurch gewärmt hatte, und er lächelte, obgleich er im Schnee vor der Haustür einer ermordeten Rentnerin stand und gerade von dem Gedenkgottesdienst für eine zweite kam.
    Könnten doch nur alle Erinnerungen so schön sein.
     
    Es war schon dunkel, als Jonas den Fremden erblickte.
    Im Sommer war ein Fremder ein gesichtsloser Teil eines größeren Ganzen, das in einheitliche Wandershorts gekleidet und mit Kartentaschen ausgerüstet im Dorf einfiel wie eine Armee und bei Mr. Jacoby alle Milch und alle Sandwiches wegkaufte. Im Winter jedoch war ein Fremder etwas Eigenartiges und irgendwie Unheimliches. Wieso sollte jemand im Winter nach Shipcott kommen? Die Beweggründe dessen, der das tat, mussten einfach verdächtig sein. Bei einer Frau oder einem Kind war es leicht, sich vorzustellen, man hätte es mit einer Schwester oder Nichte zu tun, die zu Besuch kam. War es ein Mann, so war es verlockend, sich so viel mehr auszumalen  – und nicht alles davon war gut und freundlich. An
erster Stelle standen bei diesen Winter-Fremden die Fuchsjagdgegner, die heutzutage mit allem Möglichen bewaffnet waren, von Transparenten bis zu Pfefferspray.
    Jonas hatte nicht Marvels Erfahrung oder seinen Zynismus, doch selbst er wurde misstrauisch, als der Mann ihn erblickte und daraufhin ohne Umschweife kehrtmachte und eilig den Weg zurückging, den er gekommen war.
    Nach einem nur sehr kurzen inneren Zwist verließ Jonas seinen Posten.
    Er folgte dem Mann in einer Entfernung von ungefähr hundert Metern und prägte sich sein Äußeres nach besten Kräften ein. Eher klein, eher schmächtig, eine lange grüne Wachsjacke über dunklen Hosen und Stadtschuhen. Ein Wachshut, der ihn als Kunden von Field & Stream in Dulverton auswies, dachte Jonas; die Leute aus dem Dorf trugen solche Hüte nicht. Die breite Krempe warf einen Schatten auf das Gesicht des Fremden, wenn er unter den orangegelben Straßenlaternen hindurchging.
    Der Schnee zeigte Jonas, dass die Füße des Mannes klein waren  – wahrscheinlich Größe 40 oder 41  – und dass seine Sohlen ein deutliches Fischgrätmuster aufwiesen.
    Der Mann hastete rasch dahin; er schaute sich einmal um  – was Jonas nur in seinem Entschluss bestärkte, ihm weiter zu folgen, auch wenn es ihm ein bisschen so vorkam, als täte er das nur, weil ihm kalt war und weil er sich langweilte und weil der Mann ein Fremder war, mit dem Hut eines Fremden.
    Der Mann bog in die schmale Straße neben Mr. Jacobys Laden ein, die, wie Jonas wusste, eine Sackgasse war. Jetzt näherte Jonas sich langsamer; er wartete darauf, dass der Mann wieder herauskam, doch er tat es nicht. Nach ein paar Minuten folgte Jonas ihm in die Gasse.
    Der Mann war verschwunden.
    In dem düsteren kleinen Innenhof hinter dem Laden standen ein paar Müllcontainer, ein paar alte, mit Erde gefüllte
Bierfässer, die Mr. Jacoby lachend als seinen »Garten« bezeichnete, und eine Recyclingtonne voller Glasflaschen. Ein Zaun, über dem ein Brombeerdickicht eine höchst wirkungsvolle Barriere bildete, begrenzte die Rückseite des Innenhofes. Der einzige Weg hier heraus  – abgesehen von der Hintertür des Ladens  – führte über eine anderthalb Meter hohe Mauer zwischen diesem Grundstück und dem daneben. Fußspuren im Schnee zeigten, dass der Fremde diesen Weg gewählt hatte. Jonas’ Herz begann zu rasen. Der Mann war lieber über die Mauer geklettert und die Gasse hinuntergegangen, die sich an dem Haus nebenan entlangzog, als kehrtzumachen und ihm gegenüberzutreten. Das war nicht das Verhalten eines harmlosen Besuchers, der aus Versehen falsch abgebogen war.
    Gerade wollte Jonas über die Mauer flanken und ihm nachsetzen, als er draußen auf der Straße ein Auto zum Leben erwachen hörte.
    Scheiße.
    Er rannte durch die Gasse zurück, rutschte unbeholfen auf dem Kopfsteinpflaster. Dann schoss er über den Gehsteig hinaus, kam mitten auf der weißen Fahrbahn schliddernd zum Stehen und schaute die schmale Straße hinauf und hinunter.
    Von dem Mann oder dem Auto war nichts zu sehen.
    Scheiße, Scheiße, Scheiße.
    Jonas ging zur

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