Der Beschütze
einem bemerkenswerten Mangel an »Ich hab’s ja gesagt«-Zusätzen verkündet, was wiederum einer jener seltenen Diskussionen Tür und Tor geöffnet hatte, bei denen keiner zu punkten versuchte.
Sie hatten über den Vorfall mit Danny Marsh gesprochen.
Marvel und Grey hatten sich angeschickt, Jonas Holly zurückzuhalten, doch Jonas hatte von selbst aufgehört, also hatten sie stattdessen Danny auf die Beine gezerrt. Seine Reitkappe saß schief, hatte jedoch trotzdem alles Wichtige geschützt.
Das Pferd war auf seinem zerstörerischen Weg die Straße hinauf in mehrere parkende Autos hineingeschliddert und später unten auf dem Fußballplatz von irgendjemandem eingefangen worden.
Die Menge hatte sich in fast vollständigem Schweigen zerstreut. Elizabeth Rice und Alan Marsh hatten den tränenüberströmten Danny ins Haus gebracht, wo der für diese
Gegend zuständige Arzt – ein Mann, der aussah, als schaue er auf dem Weg zu einem Surfturnier nur mal kurz vorbei – ihm ein Beruhigungsmittel verabreicht hatte.
Marvel war zu dem VW-Käfer hinübergegangen und hatte irgendetwas Bissiges zu Jonas gesagt, von wegen polizeilicher Übergriffe, doch er hatte es eigentlich nicht ernst gemeint. Irgendjemand hatte Danny Marsh ausbremsen müssen, und zum ersten Mal, seit er nach Shipcott gekommen war, fand er, dass Jonas Holly das Richtige getan hatte, wenn auch ein wenig übereifrig. Das könnte vielleicht noch Folgen haben, doch irgendwie zweifelte Marvel daran. Die allgemeine Stimmung auf der Straße war eher Erleichterung gewesen, dass es vorbei war, als Entsetzen darüber, wie das Ganze beendet worden war.
Und jetzt hatte Reynolds eine Theorie.
»Ich habe über das nachgedacht, was Sie gesagt haben. Über die Verbindung zwischen Margaret Priddy und Yvonne Marsh.«
»Ja?« Marvel fand es ermutigend, dass diese spezielle Theorie möglicherweise auf etwas Vernünftigem gründete.
»Es gibt etwas, das man als ›tipping point‹ oder Umkipppunkt bezeichnet«, setzte Reynolds an. »Schon mal davon gehört?«
Marvel hasste solche Fragen. Wenn er Nein sagte, würde Reynolds ihm das Ganze in allen Einzelheiten erklären; wenn er Ja sagte, würde er lügen und dann vielleicht nicht begreifen, was als Nächstes kam.
»Nein«, knurrte er in einem Tonfall, der verlangte, dass Reynolds nicht mehr als dreißig Sekunden einplante, um ihn aufzuklären. Es war ein sehr spezifischer Tonfall, und Reynolds kannte ihn gut, also tat er sein Bestes.
»Das ist etwas, das ein Gleichgewicht stört und eine Abweichung vom normalen Verlauf der Ereignisse erzeugt.« Das war nicht ganz akkurat, aber es war kurz genug, um Marvel nicht auf die Palme zu bringen.
»Zum Beispiel, Sie wissen doch, all diese japanischen Jugendlichen, die Selbstmord begehen – ein ganzer Haufen, einer nach dem andern, als wär’s ansteckend?«
»Worauf wollen Sie hinaus, Reynolds?«
»Die Theorie besagt, dass ein Suizid weitere auslösen kann. Die Leute hören von dem Selbstmord, und Jugendliche, die bisher nicht so weit gegangen wären, fangen an, so etwas in Erwägung zu ziehen. Und wenn noch ein paar mehr es tun – als sei es erlaubt, sich umzubringen, weil’s ja anscheinend jeder tut –, ist es kein Tabu mehr. Und ehe man weiß, was Sache ist, geben die Kids sich die Kugel, weil ihr Hund ihre Hausaufgaben gefressen hat, und man hat es mit einer Epidemie zu tun. Man hat den Umkipppunkt überschritten.«
Marvel erwiderte nichts, daher wusste Reynolds, dass er ihm zuhörte.
»Sie haben mich nach dem Bindeglied gefragt. Und ich habe darüber nachgedacht, was Sie gesagt haben, dass Margaret Priddy und Yvonne Marsh beide eine Belastung für ihre Angehörigen waren. Die Tatmethode ist unterschiedlich, sie stimmt nicht überein. Vielleicht sind es ja auch unterschiedliche Täter. Vielleicht hatte der Mörder von Yvonne Marsh ja das Gefühl, er hätte die Erlaubnis für seine Tat, weil schon jemand Margaret Priddy umgebracht hatte.«
»Sie wollen also sagen, Alan Marsh könnte seine Frau ermordet haben, weil Peter Priddy bereits seine Mutter kaltgemacht hatte?«, fragte Marvel.
»Das ist eine Theorie« wandte Reynolds ein, nunmehr ein wenig in der Defensive. »Stellen Sie sich das doch mal vor, jahrelang für jemanden wie Yvonne Marsh zu sorgen. Völlig durchgeknallt. Tapert einfach los und haut ab. Hat keinen blassen Dunst, wer Sie sind, nach vierzig Jahren Ehe. Stellen Sie sich vor, wie anstrengend das ist. Vielleicht braucht man ja nur ein
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