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Der Beschütze

Der Beschütze

Titel: Der Beschütze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Belinda Bauer
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verlangten danach. »Hat es … haben sie sich gewehrt?«
    »Ich glaube nicht. Sie sahen alle ganz … friedlich aus. Ich glaube, er hat zugeschlagen, während sie geschlafen haben. Sie waren gleich tot. Ich hoffe, sie waren gleich tot.«
    Lucy legte die Hand auf die ihres Mannes und blickte auf das Messer hinunter, das er ihr gegeben hatte und das zwischen ihnen auf dem Tisch lag. Zuerst war es ihr albern vorgekommen, doch seit seinem Anruf heute Morgen aus der Sunset Lodge hatte sie es kaum aus der Hand gelegt.
    Sie schauderte, und bei dieser Bewegung schreckte Jonas blinzelnd auf. Sein Blick erfasste die Waschmaschine, und ihm fiel wieder ein, dass sie geleert werden musste. Und ein Korb Wäsche musste gebügelt werden. Hauptsächlich Arbeitshemden und ein paar Uniformhosen. Und die paar Oberteile, die Lucy nicht anziehen konnte, wenn sie zerknittert waren. Bügeln war nicht Jonas’ Stärke, und sie bemühten sich immer, geschickt einzukaufen, damit nicht viel Bügelwäsche anfiel.
    Lucy streichelte seine Hand. »Iss, Liebling.«
    Pflichtbewusst griff Jonas wieder nach seiner Gabel.
    Er sah, dass frisch eingetroffene Post an der Obstschale lehnte. Ein paar Tage hatten sie keine bekommen, aber jetzt, wo Marvels Team und Jonas mehrmals den Hügel hinauf-und hinuntergefahren waren und den Schnee in Matsch verwandelt hatten, war Frank Tithecotts alter roter Postwagen der Herausforderung anscheinend wieder gewachsen.
    »Erzähl mir von deinem Tag«, sagte er.
    »Bist du sicher, dass du diesen ganzen langweiligen Mist hören willst?«, fragte sie verblüfft.
    »Genau das will ich hören«, antwortete er inbrünstig.
    Sie begriff, also erzählte sie.
    Jonas fühlte, wie ihm körperlich und seelisch wärmer wurde, während er aß und zuhörte, wie seine Frau die kleinen Details ihres Daseins schilderte. Hier in der Küche, mit
einem Feuer im Kamin und Abendessen im Bauch, war es leicht, sich einzubilden, dass die Welt in Ordnung sei.
    Sie erzählte ihm von dem Rotkehlchen, das fast zehn Minuten lang auf dem Fenstersims gesessen und sie angestarrt hatte, während sie zugesehen hatte, wie Riesenkakerlaken in Angriff der Killerinsekten New Yorker zerkaut hatten. Sie beschrieb, wie sie ganz plötzlich das manische Bedürfnis gehabt hatte, einen Kuchen zu backen, und wie sie alles Nötige zusammengesucht und auf dem Küchentisch aufgebaut hatte, was über eine halbe Stunde gedauert hatte  – und dann war der Strom ausgefallen, was bedeutete, dass sie den Backofen nicht vorheizen konnte. Sie hatte noch einmal zwanzig Minuten gebraucht, um alles sehr viel weniger ordentlich wieder wegzustellen. Dann hatte sie eine Stunde geschlafen und war von Frank geweckt worden, der hereingekommen war und über die Sache in der Sunset Lodge geredet hatte. Der Briefträger wusste so ziemlich alles, was es zu wissen gab, und Jonas und Lucy verdrehten beide die Augen, damit sie es nicht laut auszusprechen brauchten: Das gibt’s auch nur in Shipcott.
    Sie hatte sich eine Quizsendung angesehen, bei der die Lösung »Dosengericht« gelautet hatte, obgleich dieselben Buchstaben ja auch »Rosengedicht« ergaben, und das sei doch eigentlich nicht fair, oder? Dann ließ sie sich eine halbe Ewigkeit über einen Brief von Charlie aus, ihrer ältesten Schulfreundin. Charlies Mann hatte Mumps gehabt, bei ihrem siebzehnjährigen Sohn Luca war Legasthenie diagnostiziert worden, und Saul, ihr Jüngster, war vor dem ersten Kätzchen, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte, davongelaufen und hatte »Ratte! Ratte!« gebrüllt.
    Sie lachten beide, und Jonas hielt mitten im Essen inne, um ihr zart übers Gesicht zu streichen.
    Vor seinen Augen klappte sie zusammen; Tränen strömten ihr so heftig über die Wangen, dass sie auf den Tisch tropften wie aus einem undichten Wasserhahn. Jonas ließ die Gabel
fallen und nahm sie in die Arme. Es gab nichts, was er sagen konnte  – oder wollte  –, um irgendetwas besser zu machen.
    Die Krankheit, die Morde, das Loch in ihrem Leben, das die Form eines Babys hatte.
    Vor alldem, vor jedem Einzelnen, war er machtlos und nutzlos. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er geglaubt, er könne helfen, könne trösten, eine Zeit, da hatte er geglaubt, er könne etwas bewegen.
    Das stimmte nicht mehr.
    Manchmal musste man eben akzeptieren, wie man war.
    Und wie man niemals hatte werden wollen.
    Er hatte nie mit ihr geweint, doch er war noch nie näher daran gewesen als jetzt, und sie verharrten minutenlang so. Er auf

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