Der Beschütze
oder Altenpfleger ja eigentlich Gift oder Vernachlässigung als Methode, wenn sie töteten.
Und Yvonne Marsh war nie in Gary Liss’ Obhut gewesen.
Diese beiden Faktoren störten Marvel, stellte er mit einem kleinen Stich des Verdrusses fest. Warum konnte er sich nicht einfach darüber freuen, dass sie den Mörder identifiziert hatten? Warum musste sein Gedächtnis mit lästigen Details von der Sorte aufwarten, die er sonst eher bei Reynolds abzuschmettern pflegte?
Die Erleichterung war eine Täuschung gewesen; ein Schluck Schnaps in einer kalten Nacht, der ihn nicht vor Frostbeulen bewahren konnte – sondern nur seine Sinne betäubte, während die Kälte an Fingern und Zehen nagte.
Er hatte keine Zeit für Erleichterung.
Erleichterung war etwas für Weicheier.
Er könnte einen Drink vertragen, um seinen Verstand zu fokussieren.
Marvel dachte an den fast vornehmen Mord an Margaret Priddy, verglichen mit der effizienten Brutalität, die bei den
drei verstorbenen Altenheimbewohnern angewandt worden war. Diese Eskalation war beängstigend. Sie kündete von zunehmendem Kontrollverlust.
Wahrscheinlich war es Gary Liss. Er wünschte, er könnte sich sicher sein. Er war sich sicher. Das Verschwinden, der gestohlene Schmuck. Er war sich sicher.
Bald würden sie es wissen. Niemand würde sich bei diesem Wetter lange verstecken können – nicht ohne zumindest zu versuchen, nach Hause zu gehen –, und Jonas hatte ihm versichert, dass Paul Angell kooperierte. Liss hatte keine Verwandten, zu denen er flüchten konnte, und Angell beharrte zudem darauf, dass Liss auch keine anderen Liebhaber hätte. Was das betraf, war sich Marvel nicht so sicher, doch so oder so, das Ganze war jetzt sechsunddreißig Stunden her, und Liss war ohne sein Auto unterwegs – einen zwölf Jahre alten Renault Clio, der einsam auf dem Parkplatz stand, mit dreißig Zentimetern Schnee auf dem Dach und einem Quadrat aus flatterndem Absperrband drum herum. Marvel hatte die gesamte neue Crew dazu eingeteilt, sich von Tür zu Tür zu fragen und Nebengebäude zu durchsuchen. Beliebt hatte ihn das nicht gemacht, doch sehr wenig von dem, was er jemals getan hatte, hatte ihn beliebt gemacht, also vergoss er deswegen bestimmt keine Tränen.
Nein, Liss würde bald gefunden werden, und dann würden sie in Sekundenschnelle die Wahrheit erfahren. Einen Mord konnte man vielleicht eine Weile verbergen, fünf jedoch waren das Werk eines Wahnsinnigen, und diesmal würde Marvel es an Liss riechen, wie ein Spürhund, der abgerichtet worden war, indem man ihm die Witterung auf die Nase gerieben hatte. Jetzt konnte er es fast riechen, die säuerliche Ausdünstung eines Mannes, der von der Ungeheuerlichkeit seiner eigenen Verbrechen in die Enge getrieben worden war; die Rechtfertigung für nicht zu rechtfertigende Taten. Marvels Kiefer spannte sich vor Zorn, noch bevor er jemanden hatte, an dem er ihn auslassen konnte.
»… und in diesem Fall ist ihm vielleicht gar nicht bewusst, was er tut. Außerdem sagt sie, manche Mörder hören einfach auf. Sie erreichen einen Sättigungspunkt und haben jahrelang kein Bedürfnis mehr zu töten. Vielleicht sogar nie wieder … das hängt davon ab …« Reynolds’ Vortrag versiegte unter Marvels finsterem Blick.
»Ich habe Ihnen gar nicht mehr zugehört«, sagte Marvel unverblümt, und Reynolds zuckte die Achseln. So viel hatte er mitbekommen.
Marvel stand auf und griff nach den Autoschlüsseln. »Das ist doch Schwachsinn. Diese ganzen Scheißtheorien helfen uns nicht, Liss zu finden. Alles, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass dieser Scheißkerl immer mehr eskaliert – und zwar schnell.«
Reynolds nickte. »Ihn kennen ist nicht dasselbe wie ihn aufhalten.«
»Stimmt«, pflichtete Marvel ihm bei, während er die Tür des Einsatzraums aufriss und den Wind hereinfauchen ließ, »und wir müssen unsere Ärsche in Bewegung setzen; irgendwas sagt mir nämlich, dass der Kerl noch nicht fertig ist, wenn wir ihn nicht aufhalten.«
Lionel Chards Zimmer war als Tatort abgesperrt worden.
Als er jetzt von der Tür aus hineinstarrte, kam Marvel sich vor wie ein Besucher in einem herrschaftlichen Anwesen. Hier ist das Bett, Ladys und Gentlemen, wo der König Katharina von Aragón entjungfert hat, und hier ist die feuchtigkeitsresistente Bandscheibenmatratze, auf der Lionel Chard von einem oder mehreren unbekannten Tätern erschlagen wurde.
Durch das weiße Fenster konnte er Flocken vom Himmel fallen
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