Der Beschütze
Mord – konnte man nicht länger für etwas anderes halten als für eine Warnung: Wenn du deinen Job nicht machst, dann tue ich es für dich.
Aber er machte seinen Job doch! Diesmal irrte sich der Mörder! Jonas hatte mit seinen Nachtstreifen angefangen, und jetzt war er auch tagsüber richtig an den Ermittlungen beteiligt. Sie hatten sogar einen Verdächtigen. Wie konnte der Mörder – oder irgendjemand anderes – ihm vorwerfen, er mache seinen Job nicht mehr?
Doch der drohende Ton der Botschaft war unverkennbar, und Jonas wusste, dass er sich nicht mehr hinter früheren Doppeldeutigkeiten verstecken konnte.
Es war Zeit, mit Marvel zu sprechen.
Der Killer konnte sich nicht bis in alle Ewigkeit verstecken. Alles zog sich um ihn zusammen. Alles holte ihn ein. Erinnerungen stemmten sich gegen die Decke seines Unterbewusstseins wie verzweifelte Matrosen im Bauch eines sinkenden Schiffes.
Er war sich nicht mehr sicher, ob er das alles zusammenhalten konnte. Ein Teil von ihm hatte sich früher einmal eine Verbindung mit dem Beschützer/Polizisten eingebildet; es hatte eine Zeit gegeben, als er überlegt hatte, ob sie vielleicht eines Tages im selben Team spielen würden. Seite an Seite arbeiten würden.
Doch Jonas war noch immer genau dort hartnäckig erfolglos, wo es wirklich drauf ankam.
Die Leichen wurden immer mehr.
Die falschen Menschen starben, und das war einfach nicht fair. Es war einfach nicht richtig.
Es musste endlich etwas geschehen.
Elizabeth Rice rief Marvel an – angeblich um zu sagen, dass sie noch keine Gelegenheit gehabt hatte, das Polaroidfoto des
Fußabdrucks mit sämtlichen Schuhen im Haus der Marshs zu vergleichen, in Wirklichkeit jedoch, um zu erfahren, was in der Sunset Lodge los war.
Marvel sagte, sie solle sich gar nicht erst die Mühe machen. Sie hätten einen Tatverdächtigen.
»Heißt das, ich kann zu Ihnen raufkommen?«
»Nein«, antwortete Marvel. »Bleiben Sie noch ein bisschen da. Vielleicht brauche ich Sie ja, um den Marshs von einer Verhaftung zu berichten.«
»Okay. Gut«, sagte Rice, obwohl sie größte Lust hatte, vor lauter Frustration irgendetwas durch die Gegend zu schmeißen.
Am liebsten ganz gezielt nach Marvel.
Als Jonas in der Sunset Lodge eintraf, hatten die Heimbewohner gerade ihre beschwerliche Wanderschaft vom Gartenzimmer in den Speiseaal angetreten, um zu Abend zu essen.
Obwohl es bereits dunkel war, war es im Gartenzimmer so heiß wie eh und je, und unter dem Haarspray- und Babypudergeruch roch es nach süßlicher Fäulnis. Nach der eisigen Kälte draußen war die Luft unerträglich stickig. Er fragte sich, ob sie hier jemals die Fenster öffneten, damit die Leute durchatmen konnten …
Die Erinnerung rammte ihn wie ein Geisterzug.
Er und Danny Marsh hatten bei Mr. Jacoby Maden zum Angeln gekauft. Im Spätsommer gab es im Bach hinter dem Fußballplatz Stichlinge und manchmal auch eine Forelle, und das Schulhofgerücht von einem Hecht machte die Runde, der vielleicht Annie Rossiters verschwundene Katze Wobbles gefressen hatte – oder vielleicht auch nicht. An die Wobbles-Theorie glaubte Jonas eigentlich nicht, denn warum sollte sich denn eine Katze im Bach aufhalten? Aber er träumte davon, einen Hecht zu fangen. Oder eine Forelle.
Um ehrlich zu sein, ein Stichling würde es auch tun.
Also hatten er und Danny sich einen Topf Maden gekauft. Einen kleinen weißen Plastiknapf mit einem nicht ganz durchsichtigen Deckel, den man hochheben musste, wenn man die fetten weißen Würmer richtig sehen wollte. Mr. Jacoby hatte ihn aus dem Kühlschrank genommen – von einem Regal neben den Coladosen und denen mit Löwenzahnlimonade, bei der Jonas sich nicht entscheiden konnte, ob er sie mochte oder nicht.
Jonas war wie vor den Kopf geschlagen, dass er sich an solche Kleinigkeiten erinnern konnte. Jetzt fiel ihm sogar wieder ein, dass die Maden 55 Pence gekostet hatten. Danny hatte sie bezahlt, weil er Jonas Geld für einen Comic schuldete.
Sie hatten nur eine Angelrute – Jonas’ kleine Anfängerrute, die letzte Weihnachten in Blasenfolie verpackt angekommen war. Auf der Rolle, die fest am Korkgriff angebracht war, war bereits die Schnur aufgewickelt, und zwei rot-weiße Kugelschwimmer und ein Tütchen mit kleinen, anspruchslosen Haken waren auch dabei.
Sie hatten einen langen, heißen Tag lang geangelt, hatten Käse- und Gurkenbrote gegessen und sich damit abgewechselt, die Angelrute zu halten, für den Augenblick,
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