Der Besen im System
gleichsam verkantete, wodurch der Eindruck entstand, als sei die gesamte Erieview Plaza ein stiller Teich, in den man das Hochhaus versenkt hatte, und der Schatten lediglich der sich spiegelnde Teil unter der Wasseroberfläche. In der Morgensonne stand das Bombardini Building noch sauber zweigeteilt da, zweigeteilt in Hell und Dunkel auf der Nordseite des Towers. Doch mit Anschwellen des Tages wurden die Schatten dichter und breiteten sich mit düsterer Gelassenheit über die gesamte Fassade aus. Und wenn dazu noch Wolken aufzogen, die das Schattenspiel weiter verkomplizierten, dann wurde das Bombardini Building zum Fraß der Dunkelheit – sofern sich keine Schadstoffe in der Luft befanden, welche in der Lage waren, die Lichtstrahlen umzulenken, doch gerade in diesem epileptisch zuckenden Schein wirkte der Flirt des Bombardini Building mit dem Rand der Finsternis noch ernster. Etwa um drei Uhr nachmittags schließlich versank das Bombardini Building in vollständiger Dunkelheit, gelb leuchteten die Fenster, Autos schalteten das Licht ein. Das Bombardini Building war also leicht zu finden, lag es doch genau an der Grenze zum Streubereich des spektakulärsten Schattens im ganzen Mittleren Westen.
Ein weiteres markantes Kennzeichen war das bleiche Skelett von General Moses Cleaveland, das vor dem Bombardini Building nicht allzu tief zur ewigen Ruhe in den Beton des Gehwegs gebettet war. Und obwohl der Knochenmann gut zu erkennen war, schienen ihn die Passanten nicht weiter zu beachten, nicht einmal hungrig schnüffelnde Hunde interessierten sich für ihn, denn das Grab war mit einem dünnen Elektrogitter gesichert, sodass der General weitgehend ungestört seine Totenruhe genießen konnte, sah man einmal von dem Schild ab, dessen Stange pietätlos in seiner linken Augenhöhle steckte. Das Schild verwies auf den großen, eigens markierten Parkplatz vor dem Gebäude und besagte: DIESER PARKPLATZ IST RESERVIERT FÜR NORMAN BOMBARDINI, MIT DEM SIE SICH NICHT ANLEGEN SOLLTEN.
Frequent & Vigorous Publishing teilte sich die Büroräume mit der Bombardini Company, einer Firma, die auf nicht näher definierte Weise mit Gentechnik zu tun hatte, was Lenore ehrlich gesagt aber ziemlich egal war. Die Bombardini Company nutzte den größten Teil der unteren drei Stockwerke, dazu eine vertikale Strecke von jeweils einem Büro bis hinauf in das oberste sechste Geschoss auf der Ostseite des Gebäudes. Frequent & Vigorous besaß dagegen in den ersten drei Stockwerken der Westseite eine Vertikalstrecke von je einem Büro, machte sich aber zum Ausgleich in den oberen drei Geschossen so breit wie Bombardini unten. Die Telefonzentrale von Frequent & Vigorous, Arbeitsplatz von Lenore, befand sich auf der Westseite der riesigen, höhlenleeren Eingangshalle des Bombardini Building. Auf dessen Hinterwand rückten am Morgen die Schatten vor, die durch die verglaste Front in die Halle fielen, gleichmäßig, unaufhaltsam, mit beinahe messbarer Genauigkeit. Tatsächlich konnte man am Stand der Schatten halbwegs genau die Zeit ablesen, mit Ausnahme der Mittagsstunden, wenn alles in dieses schwarz-weiß flimmernde Stummfilmlicht getaucht war.
Was im Augenblick der Fall war, denn Lenore war furchtbar spät dran. Und leider hatte sie auch Candy Mandible telefonisch nicht mehr erreicht. Sämtliche Telefone des Seniorenheims waren offenbar defekt, und unter der Nummer von F & V meldete sich eine Abschleppfirma.
»Frequent & Vigorous«, sagte Candy Mandible ins Mikro ihrer Telefonanlage. »Frequent & Vigorous«, sagte sie. »Nein, dies ist nicht Enriques House of Cheese. Soll ich Ihnen die Nummer geben, wenn auch ohne Garantie, dass sie funktioniert? Nein, keine Ursache.«
»Candy, tut mir Leid, aber es ging nicht anders. Ich bin einfach nicht durchgekommen.« Lenore ging hinter den Tresen und in die Telefonkabine. Durch das Fenster über ihnen blitzte ein letzter Kathedralenstrahl der Sonne, dann war es dunkel.
»Lenore, du kommst drei Stunden zu spät. Meinst du nicht, das ist ein bisschen viel?«
»Mein Chef würde das nicht mitmachen. Ich wäre sofort gefeuert, wenn ich mir solche Sachen rausnehmen würde wie ihr«, schnappte Judith Prietht zwischen zwei Anrufen in der Bombardini-Zentrale, das war die Kabine gleich nebenan.
Lenore stellte ihre Handtasche neben die Security-Telefone. Sie trat näher an Candy heran. »Ich habe versucht, dich anzurufen. Mrs. Tissaw hat mich um halb zehn aus der Dusche gerufen, weil bei der Schwartz jemand für
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