Der bessere Mensch
vierzig Ehejahren? Nein … was war denn naheliegender, als dass ihr Mann ihr irgendwann von seinem Zögling erzählt und sie Kastor gewissermaßen als Stiefsohn aufgenommen hatte? Was war denn auch im therapeutischen Sinne logischer, als ihm ein liebevolles Umfeld zu bieten, das seine physische Genesung ergänzte? Ganz im Gegensatz zu dem, was Hofer behauptet hatte. Und dann, im Lauf der Jahre, erfährt Kastor von der schrecklichen Vergangenheit seines Ziehvaters, lernt die Namen kennen, erfährt von Born senior und junior, und beschließt, den jungen ersatzweise für alle verstorbenen oder noch lebenden SS -Schergen zu töten. Und wenn er im Auftrag gehandelt hat? Die Witwe? Die in einem plötzlichen, vulkanartigen Ausbruch des ohnmächtigen Zorns, der sich angesichts der Gräuel, die ihrem Mann, seiner und ihrer Familie, den Juden … die Ohnmacht und der Hass, der sich über die Jahrzehnte nur schlafend gestellt hatte, um auf einen alttestamentarischen Racheengel zu warten, der dann in Kastors Gestalt erschienen war … oder war es noch viel größer? Ein geheimes Netzwerk, das sich der Züchtung eines makellosen Menschen verschrieben hatte … oh Gott, jetzt musste er aufhören, jetzt war er gleich bei den Illuminaten. Was ist die Wahrheit schon wert, wenn sie nur Probleme und mehr Arbeit bringt – wer ihm das einmal gesagt hatte, hatte Schäfer vergessen, wahrscheinlich seine Großmutter.
Im Kommissariat fand er Bergmann in die Akte des türkischen Mädchens vertieft.
„Ah, Sie Streber … wollen Sie mich im Endspurt noch überholen …“
„Ganz und gar nicht … es hat mir die halbe Nacht zu denken gegeben … schauen Sie sich das an.“ Bergmann reichte Schäfer einen Laborbericht. Die Untersuchungsergebnisse des Taschentuchs.
„Tierisches Fett … dazu eine anorganische Verbindung aus Glycerin, Methylparaben, blablabla … eine parfümierte Handcreme …“
„Genau … dazu ein paar Hautschuppen des Mädchens, aber keine DNS -Spuren des Vaters …“
„Das passt perfekt … warum ist uns das nicht früher aufgefallen?“
„Selektive Wahrnehmung?“
„Möglicherweise … ich muss noch einmal mit dem Freund sprechen … kommen Sie mit?“
Bevor sie sich auf den Weg machten, riefen sie den Jungen am Handy an und vereinbarten einen Treffpunkt in einem Park, wo er mit seinen Freunden Skateboard fuhr. Um was es denn gehe? Nur ein paar Details, reine Routine, antwortete Schäfer, der wusste, dass bestimmte Personen auf den Ausdruck Routine sehr nervös reagieren konnten.
„Was wollen Sie denn jetzt noch wissen?“, fragte der Junge argwöhnisch. „Der ist doch verurteilt, oder?“
„Nicht rechtskräftig, aber er ist erst einmal verurteilt, ja … mindestens zwanzig Jahre, danach ist er ein alter Mann, dann ist sein Leben vorbei …“
„Und weiter?“
„Setz dich“, forderte Schäfer den Jungen auf, dessen Herumgewippe auf dem Skateboard ihn nervös machte.
„Es besteht kein Zweifel, dass Dana von ihrem Vater schlecht behandelt worden ist … das hat sie unglücklich gemacht … gerade zu einem Zeitpunkt, wo sie gerne mit dir und anderen Freunden glücklich gewesen wäre … sie war sehr traurig, oder?“
„Ja“, antwortete der Junge leise. „Dana war immer schon eher traurig.“
„Hat sie irgendwann einmal davon gesprochen, dass sie nicht mehr leben will?“
„Kann sein … aber da ist sie nicht die Einzige …“
„Wie meinst du das?“
„Die das gesagt hat … dass sie nicht mehr leben will … das sagen doch viele, die keine Lust auf den ganzen Scheiß haben …“
„Verstehe.“ Schäfer musste sich erst wieder in Erinnerung rufen, dass er es mit einem zornigen Jungen in der Pubertät zu tun hatte. „Und ihren Vater, den hat sie gehasst … den habt ihr beide gehasst …“
„Natürlich … das Arschloch … soll verrecken, die Sau …“
„Wenn sie sich umbringt, dann so, dass ihr Vater dafür ins Gefängnis geht … das hat sie doch gesagt, oder?“
Der Junge schaute Schäfer überrascht an, senkte den Blick und spuckte auf den Boden. Schäfer nahm eine Visitenkarte aus seiner Jacketttasche und hielt sie dem Jungen hin.
„Du kannst dir Zeit lassen … aber denk bitte darüber nach … auch wenn er ein Arschloch ist: Wegen etwas, das er nicht getan hat, sollte er nicht im Gefängnis sitzen … auch das ist ungerecht.“
Schäfer und Bergmann standen auf und ließen den Jungen auf der Parkbank zurück.
„Es könnte auch ohne seine Aussage gehen“, meinte
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