Der Bestatter: Thriller (Christian Beyer-Reihe)
knockte ihn mit seinem
Schlagring aus.
Als Karen ihren Bericht beendet hatte, herrschte kurz
Schweigen. Yvonne senkte den Blick und griff in die Plätzchenschale, die sie vor
Beginn der Konferenz auf den Tisch gestellt hatte. Verstört betrachtete sie den
Keks in Tierform, murmelte »Oh, ein Schaf« und legte ihn wieder zurück in die
Schale. Yvonne tat gerne hartgesotten, um sich vor den von ihr so bewunderten
Profis keine Blöße zu geben, doch in solchen Momenten verlor sie schlagartig
ihr fröhliches Naturell und sank in sich zusammen. Den anderen erging es kaum
besser. So erfahren sie alle hier am Tisch auch waren, auf ihnen lastete nicht
nur die drückende Hitze im Raum, sondern die jedesmal und immer wieder neu
verspürte Erschütterung über die notwendige Kluft zwischen der wissenschaftlich
distanzierten Sprache der Rechtsmedizin, die über ein komplex zusammengesetztes
chemikalisch-biologisches Gebilde befand, und der Tatsache, daß es sich dabei
um ein Kind handelte, das vor kurzem noch gelebt, gespielt, gelacht und eine
Zukunft gehabt hatte. Vor allem Eberhard, der selbst zwei kleine Kinder hatte,
konnte sich nur schwer zur Sachlichkeit zwingen.
Christian erhob sich schleppend und ging zur Pinnwand. Obwohl er
bemüht war, sich nicht anmerken zu lassen, wie persönlich er die Sache nahm,
war seine Stimme rauh, als er zusammenfaßte: »Vier Jungs, im Alter von circa
sieben bis elf Jahren. Der erste ermordet am 9. Februar, Aschermittwoch.
Aufgefunden drei Tage später hier bei Norderstedt im Wald. Geschätzte elf Jahre
alt. Erdrosselt. Eine weiße Lilie auf der von Wetter und Wald verschmutzten
Leiche, aufgebahrt auf einem Schneehaufen. Kein Leichentuch. Kein Psalm. Keine
verwertbaren Spuren, keine Zeugen. Das Kind asiatischer Herkunft mit der auf
der Innenseite des linken Oberschenkels eintätowierten Nummer 573 konnte bis
heute nicht identifiziert werden. Tatort und Fundort ganz offensichtlich nicht
identisch.
Zweite Leiche am 27. März, Ostersonntag. Mahlsdorf, bei Berlin.
Geschätztes Alter sieben Jahre. Gefunden auf einem kleinen Hügel mit Seeblick.
Keine Blume, aber in ein weißes Tuch gewickelt, in dem sich folgender, auf
einem Computer getippter Text, Schrift Harrington, befand: Gift ist in ihnen
wie Schlangengift, wie Gift einer tauben Otter, die verschließt ihre Ohren.«
Christian sah Daniel an. Der blickte auf ein geöffnetes Dokument in
seinem Laptop: »Bibel. Das Buch der Psalmen. Psalm 58, 5.«
Christian fuhr fort: »Keine verwertbaren Spuren, keine Zeugen. Das
Kind konnte ebenfalls noch nicht identifiziert werden.
Dritte Leiche am 26. Mai, Fronleichnam. Fundort bei Augsburg. Tatort
und Fundort offensichtlich nicht identisch. Der Junge, geschätzte zehn Jahre
alt, lag auf einer Wiese vor einem alten Holzkreuz. Rundherum von der Wiese
gepflückte Blumen. Im Leichentuch folgender Text: Ihre Kehle ist ein offenes
Grab, ob auch von Schmeichelreden trieft ihre Zunge.«
Daniel ergänzte: »Psalm 5, Vers 10.«
Christian wandte sich an Pete: »Wir sind seit dem 13. Juni mit den
Ermittlungen in allen Fällen betraut. Die Entscheidung des Innenministers hat
gedauert, bis sogar die dritte Leiche schon kalt war. Und es tut mir leid, wenn
ich mich wiederhole, aber: auch hier bislang keine verwertbaren Spuren, keine
Zeugen. Hinweise ja, Hunderte von Anrufen, falsche Geständnisse, Denunzierungen
von Nachbarn, das Übliche. Die zuständigen Landespolizeidienststellen sind am
Rotieren, gehen Tausenden von Hinweisen nach, doch bis jetzt kam in keinem
einzigen der Fälle irgendwas Brauchbares heraus. Gar nichts. Auch das dritte
Kind konnte noch nicht identifiziert werden. Und nun Saarbrücken. 24. Juni.
Kein Feiertag. Ein ganz normaler Freitag. Tatort: Fragezeichen. Fundort: Wald.
Hänsel und Gretel, ein keltoromanischer Kultstein. Aufgebahrt auf Zweigen und
Blättern. Tuch, Kerzen, Psalm: O Gott, zerbrich ihnen die Zähne im Mund!
Zerschlage, Herr, das Gebiß der Löwen! Sie sollen vergehen wie verrinnendes
Wasser, wie Gras, das verwelkt auf dem Weg, wie die Schnecke, die sich auflöst
in Schleim, wie eine Fehlgeburt sollen sie die Sonne nicht schauen!«
»Psalm 58, 7–9«, kam von Daniel.
»Die Psalmen sind in den Berichten bislang nicht erwähnt worden«,
warf Pete ein. Volker deutete auf das Telefon: »Wollen Sie dem BKA-Chef
Bescheid geben?«
Pete ignorierte die Provokation und wandte sich an Christian: »Ich
nehme an, Sie möchten durch diese Maßnahme eventuelle
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